Nach dem Rechten sehen

Von den heimischen Kirchtürmen über den „Orden wider den tierischen Ernst“ bis zu Bildungspolitik und Leistungsbereitschaft: eine Spurensuche im Umfeld des Konservatismus in Deutschland offenbart derzeit eine prekäre Lage und Chancen zugleich

Nicht immer kann die CDUbei konservativen KräftenPartner finden, nicht immer will sie das überhaupt

VON JÜRGEN BUSCHE

Es gibt derzeit offensichtlich eine Sehnsucht nach einer konservativen Partei in Deutschland. Aber wo sind sie, die Konservativen?

Zwei historische Daten können einiges zur schwierigen Lage des politischen Konservatismus erklären. Bismarck behandelte nach der Reichsgründung von 1871 die Katholiken als Reichsfeinde. Damit zwang er die katholischen Konservativen vor allem in Süd- und Westdeutschland in eine Sonderrolle; etliche von ihnen fanden zum Zentrum, das aber auch Arbeiter und Kleinbürger vertrat. Der politische Konservatismus wurde mithin zu einem Teil früh in die entstehende Volkspartei gezwungen und blieb dort auch lange, als diese unter dem Namen der CDU und CSU sich für konservative Protestanten öffnete.

Die nationalsozialistische Diktatur hatte aus den Kreisen des protestantischen Konservatismus viel Unterstützung erfahren, deshalb war er nach 1945 weithin kompromittiert. Er fand in der Parteienlandschaft keine richtige Heimat mehr. Die Unionsparteien entkonfessionalisierten sich zwar, entwickelten sich aber weiter als Volksparteien und waren das – zumal in den 25 Jahren des Vorsitzenden Helmut Kohl – mit einer für intellektuelle Eliten bestürzenden Konsequenz.

Aber es gibt auch hellere Punkte im Bild des aktuellen Konservatismus. Auf kommunaler Ebene, sogar in ganzen Regionen mit katholischer Prägung fühlten sich die Konservativen kaum von den Vorgängen in der NS-Zeit kompromittiert. Diese sorgten dafür, dass im Umkreis ihrer heimischen Kirchentürme konservative Politik gemacht wurde.

Es gehört seit langem zu den Eigentümlichkeiten der Unionsparteien, dass wichtige ihrer Mitglieder mit handfesten Interessen keineswegs danach streben, im Bundestag oder im Landtag bedeutende Reden zu halten. Sie gehen, wenn überhaupt, in den Stadtrat, in den Kreistag und sehen dort mit ihresgleichen nach dem Rechten. Hier hat konservative Kommunalpolitik eine interessengestützte Stabilität, die der SPD abhanden gekommen ist, seit in der Folge der Studentenrevolte der 60er-Jahre die Arbeiterbewegung als politische Kraft der Linken marginalisiert ist. Mit Strukturwandel bei den Arbeitnehmern hat das nichts zu tun.

In konservativ dominierten Regionen hat man an den Vorgaben der großen Politik wenig ändern können, aber man hat einige Korsettstangen in den Kostümen gelassen, in denen man im öffentlichen Leben agierte. Dies hatte auch die Nebenfolge, dass nicht nur in Bayern und Baden-Württemberg, sondern auch in katholischen Zentren Nordrhein-Westfalens wie Münster oder Paderborn die CDU regiert, weil die Schwarzen den Ton angeben.

Was zumal das Letztere bedeutet, kann man an einer Stadt wie Aachen zeigen. Da hat im Rathaus zwar die SPD seit langem schon das Sagen, aber wenn von der Stadt überregional die Rede ist, dann wegen des Karlspreises oder wegen des „Ordens wider den tierischen Ernst“. Das aber sind Veranstaltungen konservativer Bürger, so sehen sie auch aus, sehr zum Verdruss der gewählten Stadtväter. Das lässt sich der politische Konservatismus in Aachen nicht aus der Hand nehmen. Seit Bismarck kann der sich nämlich ganz gut staatsfern zur Geltung bringen. Einst musste er das, jetzt will er es.

Nicht immer kann die CDU bei dergleichen Kräften Partner finden, nicht immer will sie das. Bei der CSU ist es etwas anders. Nur wird außerhalb Bayerns oft unterschätzt, in wie hohem Maße die Partei von Strauß und Stoiber die Dinge im Land den konservativen Kräften selbst überlässt. Trotz der hohen Erfolge bei Landtagswahlen sind die Bayern für die CSU-Führung weniger berechenbar als die Bevölkerung anderer Bundesländer für die politisch Verantwortlichen dort. In produktiver Gemeinschaft gedeiht an der Seite eines urwüchsigen Konservatismus immer auch ein kräftiges Stück Anarchie.

Wenn die Unionsparteien in diesem Bundestagswahlkampf mit irgendetwas auftrumpfen können, dann mit Hinweisen auf unionsregierte Länder, in denen es den Menschen besser geht als in SPD-regierten Ländern. Sogar das kleine Österreich darf inzwischen schon als Beispiel dafür herhalten, wie gut konservative Politik einem Gemeinwesen tut. Angela Merkel wird bei ihren Wahlkampfreden nicht müde, hervorzuheben, dass die Pisa-Studie nicht nur Bayern in den Schulergebnissen ganz vorn sehe in Deutschland, sondern auch Sachsen, Brandenburg aber weit hinten – und das, obwohl in diesen beiden Ländern bis 1990 exakt dieselbe Schulpolitik exerziert wurde. Aber seit 1990 ist eben in Sachsen die CDU dafür zuständig, in Brandenburg ist es die SPD.

Die Ergebnisse, nicht die Programme sind es, mit denen Unionspolitiker derzeit für sie günstige Aufmerksamkeit gewinnen. Aber lässt sich das, was man als ursächlich für die besseren Ergebnisse in konservativ erscheinenden Ländern und Regionen ausmachen kann, überhaupt in Programmen fassen? Sicherlich zum Teil. Aber da sind CDU und CSU auch selten effizient. Man kann sagen: Die Förderung der Kleinen im Kindergarten dient unterschiedslos dem Wohl aller, das ist also eine Gemeinschaftsaufgabe, da ist der Staat gefordert. Das Stu- dium an der Universität dient, wenn es erfolgreich sein soll, zuerst den Interessen und dem Ehrgeiz des Einzelnen, da ist es sinnvoll, dass der Einzelne dafür sorgt; der Staat muss, wo nötig, nur fördernd eingreifen. Das entspricht konservativem Realismus.

Schlussfolgerung für das dringlichste aller Projekte aktueller Politik „Kinder und Bildung“: kostenloser Kindergartenplatz für alle – Einführung von Studiengebühren für jeden bei gleichzeitiger Etablierung eines sorgsamen Stipendiensystems. Welche Landesregierung in Deutschland will dieses Paket schnüren?

Ohne die Unterschiede in der Schulpolitik der Bundesländer zu ignorieren, darf man der Vermutung Raum geben, dass die besseren Leistungen in unionsregierten Ländern sich wohl zumeist der Tatsache verdanken, dass in den konservativen Milieus der hier ansässigen Bevölkerung Leistungswillen und leistungsförderndes Verhalten der Heranwachsenden eine größere Rolle spielen als anderswo. Dass dies nicht ohne Wirkung auf die Lehrer und das Unterrichtsklima an den Schulen bleibt, liegt auf der Hand. Dass umgekehrt durch solche Verhältnisse motivierte Lehrer und Lehrplangestalter zum Erreichen anspruchsvoller Ziele ermutigt werden und damit Erfolg haben selbst dort, wo das entsprechende konservative Milieu kaum aufzuspüren, zumindest nicht traditionell mitbestimmend ist, könnte das Beispiel Sachsen lehren.

In der Bildungspolitik zeigt sich am stärksten die Verbindung der Sehnsucht nach einer konservativen Kraft mit aktuellen Interessen. Das immer häufiger werdende Ausweichen derer, die es sich leisten können, in Privatschulen, ist politisch keine Antwort. In der Bildungspolitik zeigt sich aber auch der Gegensatz, der politisch verstanden sein muss, wenn die Wendung zum Konservativen nicht reaktionär sein soll. So verhängnisvoll die Bildungsreform der 70er-Jahre für Universitäten und Gymnasien, bald auch für die Hauptschulen war, so einleuchtend und richtig sind bis heute einige ihrer Motive.

Von diesen war das wichtigste die Vermittlung der emanzipatorischen Wirkung von Bildung an möglichst viele Menschen. Bildung ermutigt Menschen, selbstbewusst aufzutreten, in komplexen Verhältnissen ihre Aufgabe zu finden, Demokratie und Rechtsstaat als Grundlagen einer freien Gesellschaft zu begreifen und mitzugestalten.

Aber Bildung dient nicht nur der Emanzipation, sie ist auch Grundlage für die Leistungsstärke einer Gesellschaft, eines Staates. Der Staat muss im eigenen Interesse nicht nur Bildungschancen schaffen, er muss mit Nachdruck betreiben, dass sie auf hohem Niveau genutzt werden, und muss einschreiten, wenn sie verschleudert werden. Bildung ist nicht nur Bürgerrecht – Bildung ist Bürgerpflicht.

Kann der Staat, kann eine Stadt, kann eine Schule Bildung erzwingen? Darf er das überhaupt? Dies würden keineswegs nur Liberale fragen, das würden gerade Konservative fragen und rundweg bestreiten. Aber Konservative sagen: Das braucht der Staat auch gar nicht zu tun, das tun wir selbst. Liberale, auch Linke, sagen dagegen heute immer öfter: Das können wir nicht. Das erklärt die Sehnsucht nach einer konservativen Kraft in der Politik.