30 Milliarden Euro Kriegskasse

Rückstellungen I: Die CDU will die AKW-Laufzeiten verlängern. Diese Aufkündigung des Atomkonsenses könnte für die Stromkonzerne jedoch unerfreulich werden: Bisher erlaubt er ihnen freie Verfügung über 30 Milliarden Euro an Rückstellungen

Die EU sieht in Rück- stellungen schon lange ein Problem: verzerrten Wettbewerb

VON NICK REIMER

Es geht um 30 Milliarden Euro. Um Wettbewerbsvorteile. Um eine Klage vor dem Europäischen Gericht. „Wir wollen erreichen, dass die Kommission bei den so genannten Rückstellungen einschreitet“, sagte gestern Dörte Fouquet, die die Stadtwerke Tübingen und Schwäbisch Hall vor dem EU-Gericht vertritt. Entscheidung ist voraussichtlich noch vor dem Herbst.

Der Terminus finanzus Rückstellung: Will etwa ein Braunkohlekonzern eine neue Grube erschließen, muss er erst einmal Geld „rückstellen“. So ist garantiert, dass die Grube nach dem Ende ihrer Nutzung auch wieder geschlossen werden kann – selbst in dem Fall, dass der Konzern Pleite geht. Genauso ist das bei den Atomkraftwerken: Seit Anfang der 80er-Jahre müssen die Konzerne Geld „rückstellen“, das für den Bau eines Endlagers und die Demontage der AKWs nach deren Lebensende gedacht ist. Niemand weiß genau, wie teuer das eigentlich wird. Die Konzerne haben deshalb bislang 30 Milliarden Euro gesammelt – so viel Geld, wie den drei baltischen Staaten jährlich insgesamt zur Verfügung steht.

Allerdings haben die Konzerne das gern gemacht: Erstens holen sie sich dieses Geld vom Kunden wieder – etwa 0,6 Cent je Kilowattstunde macht das im Strompreis aus, mehr als etwa für erneuerbare Energien. Zweitens ist das Geld steuerfrei. Und drittens haben die Stromkonzerne das Geld für ihre Expansion genutzt (siehe unten).

„Das Geld ist also weg“, konstatiert Hermann Scheer, SPD-Bundestagsabgeordneter und Energiefachmann. Nach seiner Rechtsauffassung sei dies illegal. „Das Bundesfinanzamt hat für Rückstellungen festgelegt: Erstens muss ihr Zweck präzise formuliert werden. Zweitens darf kein Zeitfehler passieren. Drittens müssen die Mittel jederzeit verfügbar sein.“ Die Praxis dekliniert Scheer aber so: „Zweck ist eindeutig die atomare Entsorgung – und nicht die Beteiligung an einem Schuhproduzenten.“ Damit spielt Scheer auf EnBW an, die vor Jahren Salamander aufgekauft hatten. „Zweitens wurde zu Beginn der Rückstell-Praxis das Jahr 2000 als Zeitziel genannt“, da sollte das Endlager in Gorleben fertig sein. Weil Deutschland nun auch in den nächsten zehn Jahren über kein Endlager verfügen wird, „gibt es einen Zeitfehler“. Und drittens: Eben weil das Geld in diversen Tochter-Gesellschaften angelegt ist, ist es nicht verfügbar.

Kaum war Rot-Grün 1998 an der Regierung, wurde ein Gesetz „zur Bildung eines öffentlichen Rücklagen-Fonds“ erarbeitet. Die großen Stromkonzerne sollten ihre Rückstellungen binnen drei Jahren auf ein Festgeldkonto einzahlen. Allerdings, so Scheer, habe man das Gesetz bald nicht weiter verfolgt: „Wir verhandelten mit den Atomkonzernen über den Ausstieg. Da wäre das eine Kriegserklärung gewesen.“ Stattdessen schreibt der Atomausstieg fest, dass auf die Konzerne „keine Veränderung der bisherigen Praxis“ zukommt. Scheer: „Explizit sind die Rückstellungen gemeint.“

Das könnte sich nun aber ändern: Würde die CDU im Falle eines Wahlsieges die Laufzeiten wieder verlängern, „geht den Konzernen die Geschäftsgrundlage verloren“. Die SPD würde klagen, so Scheer. Noch wird intern geklärt, welches Gericht am ehesten zuständig wäre – ob das Bundesverfassungsgericht oder das Bundesverwaltungsgericht.

Vielleicht kann sich die SPD die Klage aber auch sparen. „Die Rücklagen sind für die Entsorgung der AKWs gebildet worden und deshalb steuerlich privilegiert“, sagt der grüne Fraktionsvize Reinhard Loske. Der EU seien die steuerfreien Rückstellungen ein Dorn im Auge. Tatsächlich hatte die ehemalige Energiekommissarin Loyola de Palacio kurz vor Ende ihrer Amtszeit eine Fonds-Verordnung in Arbeit. Nach der hätten alle Europäer dem Beispiel Schweden oder Finnland folgen und die Euromilliarden auf einem Festgeldkonto hinterlegen müssen. Hermann Scheer: „Tatsächlich geht es also bei einer Laufzeitverlängerung um wesentlich mehr als 17 AKWs: um die Zukunft der deutschen Energiewirtschaft.“