Echt leer

Wo ist Pottinger? Warum wohnt er nicht mehr hier? Und was ist aus dem Linienstraßen-Kiez in Mitte geworden? Die Doku-Fiktion „Pottingers Haus“ von Thomas Martius hätte viel zu erzählen gehabt, erinnert sich aber nicht mehr an ihre Geschichte und vergibt die Chance ihres schönen Aufführungsorts

VON WIEBKE POROMBKA

„Doku“ hat Konjunktur. Doku-Dramen, Doku-Soaps und cineastische Doku-Fiktionen setzen auf das unauflösbare Durcheinander von echt und falsch. Diese Art der Auflösung von Wirklichkeit und Fiktion hat längst auch das Theater erreicht. Performer wie Christoph Schlingensief oder Gruppen wie das Rimini-Protokoll arbeiten so präzise mit ihrem dokumentarischen Material, dass am Ende die Grenzen des vermeintlich Wirklichen neu überdacht werden müssen.

Voll im Trend liegt da auch der Autor und Filmemacher Thomas Martius. Mitten in Berlin hat er mit „Pottingers Haus“ ein Projekt initiiert, bei dem es sich laut Vorankündigung um eine „dokumentarische Fiktion“ handelt. Auch bei Martius soll es also darum gehen, Realität und Imaginiertes auf irritierende Weise zusammenzuführen.

Im Mittelpunkt stehen ein unsaniertes Haus in der Linienstraße in Berlin-Mitte und einer seiner ehemaligen Bewohner – Pottinger eben. Martius hat, wie sein Held Pottinger, einige Jahre in der Linienstraße 142/143 gewohnt und dessen plötzliches Verschwinden zum Anlass genommen, vormalige und jetzige Bewohner und Nachbarn nach Pottinger selbst und nach der Geschichte des Kiezes zu befragen. Dass sich unter die echten Zeitzeugen auch der eine oder andere Schauspieler mischt, der seine Zeugenschaft nur behauptet, versteht sich von selbst. Dass hier sowieso nicht alles für bare Münze genommen darf, natürlich auch. Martius jedenfalls zwinkert seinen Zuschauern gleich zu Beginn des Abends so offensichtlich zu, dass auch wirklich jedem klar wird: Die Wirklichkeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Sujet des Abends und Aufführungsort fallen zusammen. Man sitzt im Innenhof der düster verwahrlosten Linienstraße 142/143, wo dem Ambiente entsprechend eine kleine Bühne zusammengezimmert wurde. Auf der Leinwand läuft eine Interviewmontage nach der anderen. Unterlegt wird das von leisen Beats und Tonschnipseln, die der Musiker Nino Sandow an Synthesizer und Bass improvisiert. Dazu kommt ab und zu leise Musik aus einem der oberen Stockwerke. Damit stehen Martius eigentlich alle Mittel für eine spannende und atmosphärische Inszenierung zur Verfügung. Doch im Laufe des Abends wird klar, dass er die Chancen nicht genutzt hat.

Er hat zwar Live-Musiker vor Ort, doch setzt er die nur unbeholfen ein. Er hat zwar mit dem alten Haus einen labyrinthischen, unheimlich stimmungsprallen Originalschauplatz, den er aber – bis auf den Hof – den Zuschauern vorenthält. Dazu gibt es den schrägen Pottinger, dessen Geschichte unterhaltsam sein könnte, die aber durch endlose Videoeinspielungen geradezu hingerichtet wird. Sie verwirrt sich in falschen Fährten, die Martius unablässig legt. Und sie geht schließlich unter in den Monologen von Schauspieler Peter Lohmeyer, dem Martius vor lauter Stolz auf die prominente Besetzung das Reden nicht verbieten will.

Was Martius deshalb fehlt, ist das Wichtigste: nämlich das, was er erzählen will. Es fehlt dem Ganzen einfach ein Rahmen, in dem sich das Mosaik zu einem Bild zusammenfügen könnte. So aber fallen alle Fragen und alle Unsicherheiten, die sonst den Reiz der Vermengung von Fakt und Fiktion ausmachen, ins Leere. Ob es diesen Pottinger wirklich gab, auf welche Weise er verschwunden ist, ob es einen echten Spielfilm über Pottinger gibt, den Martius in den Babelsberger Studios gedreht hat und mit dem er gescheitert ist – das alles interessiert nach drei Stunden Durcheinander niemanden mehr.

Das Genre der dokumentarischen Fiktion bekommt mit dieser Veranstaltung eine ganz neue Qualität. Schritt für Schritt wird hier vor allem die Fiktion dokumentiert, dass der Macher des Abends etwas zu erzählen habe. So bleibt „Pottingers Haus“ eine leere Simulation von irgendetwas. Nur eins ist am Ende ganz real: die Enttäuschung.

„Pottingers Haus“, bis zum 4. September, jeweils Donnerstag bis Sonntag, 20 Uhr, Linienstraße 142/143