An den Kofferträgern führt kein Weg vorbei

Biedenkopf und Arbeitsmarktforscher fordern: Markt für niedrig qualifizierte Dienstleistungen ausbauen

BERLIN taz ■ Die Kofferträger dürfen nicht fehlen. Jedenfalls dann nicht, wenn es um Lösungen für die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland geht. Denn die 2,8 Millionen Langzeitarbeitslosen in Deutschland könnten nur noch zu einem geringen Teil auf dem qualifizierten Jobmarkt untergebracht werden. Sie seien auf einfache Tätigkeiten, zum Beispiel das Koffertragen auf Bahnhöfen, angewiesen, erklärte gestern der Chef des Hartz-IV-Ombudsrates, Kurt Biedenkopf. „Und diesen Arbeitsmarkt haben wir leider beseitigt.“

Biedenkopf sprach gestern in Berlin anlässlich der Vorstellung eines neuen „Handbuchs Arbeitsmarkt“ des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) über den Jobmarkt. Vor allem gelte es, „Illusionen abzubauen“, mahnte Biedenkopf. Dazu gehöre die Illusion, dass wir nur ein hohes Wachstum bräuchten, um die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Selbst ein Wachstum von 2,5 Prozent würde nicht helfen, die vielen niedrig qualifizierten Erwerbslosen wieder in Arbeit zu bringen, so Biedenkopf. Dazu müsste der Markt für einfache Dienstleistungen ausgebaut werden, etwa indem man diese Jobs von der Beitragslast für die Sozialversicherungen befreie, forderte Biedenkopf.

Um diese Entlastung zu finanzieren, müsse man „umschichten“ von den Sozialversicherungsbeiträgen hin zu indirekten Steuern, erklärte der IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei. Beispielsweise könnte man für einfache Jobs einen Grundfreibetrag einführen, für den dann keine Sozialversicherungsbeiträge zu zahlen wären. Dies könnte man unter anderem durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanzieren. Allerdings gibt es bereits die sozialversicherungsfreien 400-Euro-Jobs, die den Sozialkassen bisher Einnahmeverluste bescherten.

Laut Biedenkopf ist das Bruttosozialprodukt pro Kopf in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten steil nach oben gegangen, während das Arbeitsvolumen schrumpfte. Der Anteil der hochproduktiven Jobs, die eine gute Ausbildung erfordern, ist dementsprechend gewachsen. Die Bildung hat damit aber nicht Schritt gehalten, im Gegenteil. IAB-Direktorin Jutta Allmendinger erklärte, etwa 20 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs würden heute in berufsvorbereitenden Maßnahmen landen, da sie nicht ausbildungsfähig seien. Die Arbeitsagenturen würden so zum „Reparaturbetrieb“ des Bildungssystems.

Dabei laste auf der jüngeren Generation aber auch deswegen ein erheblicher Qualifikationsdruck, weil die Generation der heutigen Enkel zahlenmäßig noch um 30 Prozent kleiner sei als die Generation davor, so Biedenkopf.

In dem IAB-Handbuch ist der Wandel auf dem Jobmarkt dokumentiert, der zum Verlust von Vollzeitstellen führte. In Folge dieser Entwicklung sanken die Einnahmen für die Sozialkassen. Wenn das Rentensystem nicht verändert werde und die Beitragslast für den Einzelnen weiter steige, könnte die jüngere Generation sich dem verweigern, warnte Biedenkopf. „Die Leistungsträger werden Deutschland verlassen.“ Schon heute wanderten jährlich 100.000 Deutschen in andere EU-Länder ab. Kleinere Länder könnten für sich „diese Chance entdecken“, junge Deutsche, die der Rentenzahlungen müde sind, als Arbeitskräfte anzulocken.

BARBARA DRIBBUSCH