Überforderte Pennäler

Die Niederlande zelebrieren Fußball vom Feinsten, gehen 2:0 in Führung, stellen dann ihr System um und ermöglichen so einer erschreckend schwachen deutschen Mannschaft den Ausgleich

AUS ROTTERDAM MARKUS VÖLKER

Der wichtigste Mann des Koninklijke Nederlandse Voetbalbond sagte in gespielter Untertreibung, ihm habe das Spiel gefallen. „In der ersten Hälfte haben wir durchdachten, schnellen Fußball gezeigt“, meinte Marco van Basten, Coach der Holländer. Doch dann habe es „mindere Momente“ gegeben, gar eine „chaotische“ zweite Hälfte. Van Basten klagte auf hohem Niveau. Würde man die Kritik auf die deutsche Elf übertragen, dann hätte Bundestrainer Jürgen Klinsmann wohl sagen müssen, dass sein Team miese Momente gehabt hat, mickrige, auch mordsmäßig schlechte. Und das ziemlich oft. Aber das sagte Jürgen Klinsmann natürlich nicht. Die Tiefenanalyse blieb aus. Immerhin war das Freundschaftsspiel der DFB-Auswahl in Rotterdam so ein Murks, dass auch Klinsmann Defizite einräumen musste.

Glück habe man gehabt. Schmeichelhaft sei das 2:2-Unentschieden gewesen. „Der Schwung vom Confed-Cup war nicht auf dieses Spiel übertragbar“, sagte er. „Aber das war ja klar.“ Warum? Weil die Stammkräfte noch immer unter dem Kräfteschwund der Mini-WM leiden? Weil das Gefüge der Mannschaft durch den Einbau von Spielern aus der Ära Völler (Wörns, Hamann) in Turbulenzen geriet? Weil die Niederlande ein Großer unter den Fußballnationen ist und ein Sieg gegen einen solchen Branchenprimus seit dem 7. Oktober 2000 nicht mehr gelungen ist?

„Ich mache mir keine Sorgen“, beschwichtigte Klinsmann. „Wir werden analysieren.“ Das Spiel sei ganz hervorragend geeignet für die Videosammlung. „Da kann man viel lernen.“ So kann man es auch sehen: Wenn das Match der DFB-Profis als solches nicht viel taugt, in der Zweitverwertung erfährt es größte Beachtung. Klinsmann sollte gleich zwei Kassetten ins Regal schieben, die erste und zweite Halbzeit getrennt speichern. Denn Van Bastens Elf erteilte den Deutschen zu Beginn der Partie Lektion um Lektion. Im Anschauungsunterricht kam den Gästen die Rolle des überforderten Schülers zu, eines Pennälers, der sich mit einer Frage konfrontiert sieht, auf die er keine Antwort weiß.

Holland glückte ein Blitzstart. Arjen Robben, der eine phänomenale Vorstellung ablieferte, traf schon nach drei Minuten – was die DFB-Elf nur noch zusätzlich verunsicherte. Das 4-3-3-System van Bastens funktionierte in dieser Phase des Spiels perfekt. Der Ball bewegte sich fast nur in den Reihen der Oranjes, die nicht nur Wert auf Ballkontrolle legten, sondern auch Momente der gegnerischen Unordnung zu cleveren Pässen in die Spitze nutzten. Dort lauerten die Topstürmer, neben Robben Ruud van Nistelrooy (Manchester United) auch Dirk Kuyt (Feyenoord Rotterdam), lösten sich mit einem Panthersprung vom Gegenspieler oder überdribbelten ihn in einer 1:1-Situation. Die individuelle Klasse der holländischen Stürmer im direkten Duell war evident. In dieser Zone kann sich Holland ohne weiteres mit Brasilien messen. Christian Wörns war mehrmals dem Tatendrang Robbens hilflos ausgeliefert. Bei beiden Gegentoren machte er eine unglückliche Figur; einmal legte er dem Profi des FC Chelsea per Kopfball den Ball vor, dann musste er sich das Leder trotz verschärfter Eskortierung Robbens von diesem durch die Beine spielen lassen. Robben sei an diesem Tag unspielbar gewesen, suchte Wörns nach einer Erklärung seiner Leistung.

Die DFB-Auswahl scheiterte schon im Versuch des Spielaufbaus. „Wir konnten im Grunde die Stürmer gar nicht richtig anspielen, so viel Druck haben die gemacht“, sagte Sebastian Deisler, der sich das Geschehen in den ersten 45 Minuten von der Bank aus angesehen hatte. „Wir haben nicht viel falsch gemacht“, ergänzte Michael Ballack, „weil wir gar nichts gemacht haben.“ Und weiter: „Wir waren ängstlich, nicht überzeugt von uns, wir sind nur nebenher gelaufen.“ Ballack hatte immerhin beobachtet, dass man in der Mitte ganz gut gestanden habe, „aber die Holländer haben halt über außen gespielt“. Später erst, als der Gegner auf eine defensive Dreierkette umstellte und fast die halbe Mannschaft austauschte, „da haben wir aus der Not heraus riskiert“.

Das Risiko, das Klinsmanns Team einging, war kalkulierbar. Der Anschluss fiel durch ein Kopfballtor Ballacks – natürlich. Van Basten kommentierte das so: „Da kommt dieser Ballack, ein physisch starker Mann und bumm, ist der Ball drin.“ Ja, so spielt der Deutsche, oder wie Ballack lächelnd sagte: „Standards gehören halt auch zum Fußball.“ Auch das 2:2 durch Gerald Asamoah hatte van Basten nicht behagt, wie konnte es auch, bricht doch auf der rechten Seite „dieser Borowka, äh, Borowski durch“, flankt auf den Schalker, und bumm, ist der Ball schon wieder drin – und obendrein der Beweis erbracht, dass Fußball nicht gerecht ist.

Oliver Kahn war sehr beruhigt durch die Treffer. Was interessieren den Torsteher des FC Bayern schon Fragen von Gerechtigkeit und Ästhetik, zumal er Schlimmes in seinem Kasten befürchtet hatte. „Ich habe gedacht, jetzt wird es ganz bitter, aber dann haben wir unsere Tugenden ausgepackt.“ Ein trügerischer Satz, denn die Holländer hörten schlichtweg auf, gescheit Fußball zu spielen. Ihre Dominanz war dahin. Die Deutschen durften auch mal. Die Systemumstellung hatte die Oranjes aus dem Rhythmus gebracht. Ein neuer Abwehrchef wurde aufs Feld geschickt, Wilfred Bouma, und im offensiven Mittelfeld tummelten sich nun zu viele Seidenfüße, sodass Kompetenzstreitigkeiten unausweichlich waren.

Van Basten wird aus den Strategiefehlern gelernt haben. Sein Team ist ja „im Aufbau“, wie er anführte. Mittwochabend zeigte sich freilich, dass van Basten und die Elftal an den oberen Stockwerken arbeiten, während Klinsmanns Trupp der Neuerer noch am Fundament werkelt. Der Bundestrainer meinte nichtsdestotrotz, für die Hochbauarbeiten bleibe genügend Zeit: „Unser Ziel liegt im Mai, Juni, da wollen wir die ganz großen Brocken schlagen“, verkündete er. So bleibt von diesem Spiel vor allem die Erkenntnis, dass die DFB-Elf nicht standesgemäß verlieren kann, sondern sich selbst bei teilweise krasser Unterlegenheit zu einem Remis mogelt. Auch das ist wohl eine deutsche Tugend.