Die Unordnung der Dinge

Wenn ein wichtiger Eckpunkt fehlt, lässt sich aus den Bruchstücken der Erinnerung kein Leben zusammensetzen: Ruth Schweikerts vielstimmiger, intelligent durchschossener Roman „Ohio“

VON STEFAN KISTER

Freunde des Puzzle-Spiels wissen, dass es am leichtesten ist, bei den Eckpunkten zu beginnen. In einer Geschichte sind das Anfang und Ende. Zu Beginn von Ruth Schweikerts Roman „Ohio“ findet sich ein Liebespaar in einem Hotelzimmer in Durban, Südafrika, am Ende seiner gemeinsamen Geschichte wieder. „Aber wie und womit hat alles angefangen?“ Würde man über den Anfang verfügen, wäre der Rest ein Kinderspiel. Genau dieses erste Teilchen aber fehlt, weshalb die, die versuchen aus den Bruchstücken der Erinnerung ihr Leben zusammenzusetzen, daran notwendig scheitern müssen.

Nein, Ruth Schweikerts lange erwarteter neuer Roman ist kein Kinderspiel. Sein Bauprinzip aber ist konsequent, denn was könnte dem Erzählen einer Trennungsgeschichte angemessener sein als die Form eines Puzzles? Da finden sich Teile, die in den Mittelpunkt gehören, offenbar zum Bild einer jungen Familie: der aufstrebende Arzt Andreas, seine an ihrer Dissertation über Paul Klee arbeitende Frau Merete und ihre zwei Kinder. Da ist ein Liebhaber. Ein Kind verunglückt. Andreas wird depressiv, reist nach Durban und fragt sich, womit alles angefangen hat.

Dann der Hintergrund. In weiter Ferne die Geschichten von Auswanderern: Sehnsuchtsgeschichten aus Ohio, Aufstiegsgeschichten aus St. Moritz, Kriegsgräuelgeschichten aus Breslau. Eltern, die versuchen, sich einzurichten, und Kinder, die das Gegenteil anstreben, die rebellieren, um sich doch später in einer reichen Wohngegend als Gynäkologe oder Nervenarzt wiederzufinden und festzustellen: „Ich selbst bin das, was ich verlor.“ Merete erfährt, dass sie ein Findelkind ist. Der Anfang ihrer Geschichte bleibt damit eine ewige Leerstelle.

Wie all diese Lücken und Verluste zusammenpassen – das herauszufinden bleibt dem Leser überlassen. Und er hat schwer damit zu tun, denn bisweilen scheint es, als gelte für den vielstimmigen Text dasselbe wie für den multikulturellen Schmelztiegel Durban: „ein riesiges Durcheinander, als hätte jemand hoch über der Stadt einen Sack voller Puzzleteile ausgeschüttet, die von vielen verschiedenen Spielen stammten“. Man könnte nun sortieren, etwa nach sich gegenwärtig im Umlauf befindlichen Stoffen: hier der Herkunftsaufarbeitungskomplex, dort Vertriebenenschicksale, schließlich das Spektrum der Post-68er-Befindlichkeiten, zwischen Parolen wie „freie Sicht aufs Mittelmeer“ und dem Penthouse mit Blick auf die Oper. Ein Panorama der neueren Geschichte, zugleich die Themenliste der jüngsten, erinnerungsversessenen deutschen Literatur.

Aber je tiefer man in dieses Durcheinander eintaucht und je vertrauter man mit seinen Einzelheiten wird, umso mehr zeigt sich, dass es mit Ordnen und Aneinanderfügen hier nicht getan ist. Das allumfassende Bild nämlich, in dem jedes Ding, jeder Mensch seinen Platz im Ganzen fände, bleibt dem Tod zu vollenden vorbehalten. Nur als Schwellenerfahrung blitzt es einmal auf: als Andreas’ Vater nach einem Herzinfarkt sein ganzes Dasein als eine Folge gestochen scharfer Bilder an sich vorüberziehen sieht, die sich „zu einem einzigen riesigen Tableau auffächern“.

Leben dagegen ist Stückwerk, und es widersetzt sich jedem ordnenden Eingriff, sei er existenzieller oder ästhetischer Natur. Deshalb das Bedrohliche all jener familiären Glücksentwürfe. Deshalb die Eigenheit des späten Paul Klee, seine Bilder zu zerschneiden, um, wie Merete vermutet, sein eigenes hierarchisch geprägtes Sehen zu überlisten. Deshalb die komplexe Textur des Romans selbst.

Gerade weil Ruth Schweikert nicht vorführt, wie alles zusammenhängt, strotzen hier noch versprengteste Details vor Leben. Wo Erfahrungsarmut andere Autoren in die Erinnerung treibt, schöpft sie mit leichter Hand aus der willkürlichen Fülle von Wahrnehmungsfragmenten, die die Informationsflut in unser Bewusstsein schwemmt: Nachrichtenreste, wenn es sein muss, an den „dünnen weizenblonden Haaren“ des Michel von Lönneberga herbeigezogen und mit der suizidalen Schreibhemmung der Schriftstellerin A. L. Kennedy verknüpft. Deren letztes Buch liest Andreas kurz vor seinem Freitod.

Die tödlichen Bedingungen jeder Form von Vergegenständlichung hat Schweikert zum Lebensproblem ihrer Figuren gemacht. Und in einer Paul Klee vergleichbaren List zerschneidet sie am Ende ihre Autorschaft, indem sie es Merete überlässt, den Roman zu schreiben, der ihren Mann Andreas das Leben gekostet hat. „Und glaubst du wirklich, Andreas würde sich in deinem Roman wiedererkennen, wenn er noch lebte?“, wird sie am Schluss gefragt, „eine Figur, die du zusammengekleistert hast aus tausend Einzelheiten?“ Die Antwort darauf bleibt notwendig offen. Geschickter aber hätte Ruth Schweikert sich kaum davor bewahren können, in ihr eigenes Messer zu laufen.

Ruth Schweikert: „Ohio“. Ammann Verlag, Zürich 2005, 220 Seiten, 18,90 Euro