Der Permafrost schmilzt im Zeitraffer

Klimaforscher schlagen Alarm: Das weltgrößte Eistorfmoor löst sich unaufhaltbar auf. Dabei werden Methan und Kohlenstoff frei, Straßen zerstört, Häuser stürzen ein – die Folgen für Klima, Ökosysteme und Menschen sind gravierend

VON TARIK AHMIA

Unter dem Dauerfrost Westsibiriens spielt sich ein Drama ab: Ein gefrorenes Torfgebiet von der Größe Deutschlands und Frankreichs verwandelt sich dort in eine matschige Teichlandschaft. Jüngste Forschungsergebnisse russischer und britischer Forscher zeigen, dass seit etwa vier Jahren die gesamte subarktische Region Westsibiriens taut. Wo einst Eistorfmoor war, bilden sich neue große Seen.

Der britische Journalist Fred Pearce machte die Ergebnisse nun erstmals in der Wissenschaftszeitschrift New Scientist bekannt. Besonders alarmiert die Geschwindigkeit der Entwicklung: „Die Erwärmung schreitet in dieser Region viel schneller voran als erwartet“, sagte Pearce der taz. „Die Forschungsergebnisse untermauern bisherige Befürchtungen.“

Etwa ein Viertel der Erdoberfläche sind dauerhaft gefrorene Böden. Die großen Permafrostgebiete Sibiriens, Alaskas und Kanadas sind seit Jahrtausenden vereist. In Sibirien reicht der Permafrostboden mehr als 1.000 Meter tief, in Alaska und Kanada sind bis zu 600 Meter dicke Bodenschichten tiefgekühlt. Kaum eine Region auf der Erde reagiert so empfindlich auf den globalen Klimawandel. In den vergangenen 30 Jahren sind die mittleren Temperaturen in Westsibirien um 3 Grad Celsius gestiegen. In Alaska geschah dies nach neuesten Erkenntnissen in nur 15 Jahren. Die Berechnungen aus Westsibirien verschärfen nochmals einen schon bekannten Trend: „Nach bisherigen Berechnungen werden in hundert Jahren bis zu 20 Prozent aller Permafrostgebiete aufgetaut werden“, erklärte Volker Rachold der taz. Der Permafrost-Experte vom Alfred-Wegner-Institut für Polar- und Meeresforschung rechnet damit, dass sich die Permafrostgrenze hunderte von Kilometern nach Norden verschieben wird.

Permafrostböden speichern gigantische Mengen abgestorbener Biomasse aus vergangenen Epochen. Taut dieser Kompost auf, würden allein aus den gefrorenen Pflanzenresten Westsibiriens mehr als siebzig Gigatonnen Kohlenstoff die Erdatmosphäre belasten, wie unlängst die University of Newark berechnete. Zudem würde das klimaaggressive Gas Methan aus dem sibirischen Eistorfmoor freigesetzt, das zu Milliarden Tonnen im Permafrost gebunden ist. Der Trend zur globalen Erwärmung könnte sich nochmals um bis zu 25 Prozent erhöhen, hat der britische Wetterdienst berechnet.

Im US-Bundesstaat Alaska werden die drastischen ökonomischen Folgen durch das Abtauen des Permafrostbodens bereits deutlich. Die Kühlkammer der USA leidet diesen Sommer schon zum zweiten Mal in Folge unter Rekordtemperaturen bis 30 Grad Celsius. Das Auftauen des Bodens zerstört die Infrastruktur; Fabriken, Pipelines für Erdgas und Erdöl, Bergwerke und Atomkraftwerke sind gefährdet. Straßen legen sich in Wellen, Asphalt reißt meterweit auf, Häuser versinken zentimeterweise im Schlamm, stürzen ein.

Das Schreckenswort heißt „Thermokarst“. Er entsteht, wenn der einst festgefrorene Grund einbricht und eine von Einsturztrichtern zerklüftete, tümpelige Moorlandschaft mit weitflächig vernichteten Waldbeständen hinterlässt. Ganze Ortschaften und ein Flughafen mussten komplett neu gebaut werden.

Einer der Entdecker der sibirischen Eistorfmoorschmelze, Sergei Kirpotin von der Universität Tomsk, gibt sich gegenüber dem New Scientist pessimistisch, was die Umkehrbarkeit des Auftauens betrifft: „Ich befürchte einen ökologischen Erdrutsch, der wahrscheinlich unumkehrbar ist und zweifelsfrei mit der Erderwärmung zu tun hat.“

Um diese Erkenntnisse möglichst schnell bekannt zu machen, wählte der New-Scientist-Autor Fred Pearce einen ungewöhnlichen Weg: Er wartete nicht den so genannten Peer Review Process ab – also die Begutachtung der Sibirien-Studie durch Kirpotins Fachkollegen –, sondern veröffentlichte sie vorab in seinem weltweit renommierten Magazin. „Das war nötig, weil die Ergebnisse sonst erst 2007 im offiziellen Bericht des zuständigen UN-Gremiums zum Klimawandel auftauchen würden.“ Pearce hofft, dass Umweltverbände darauf drängen werden, die rasante Permafrostschmelze schon im Dezember auf die Tagesordnung der Weltklimakonferenz zu setzen.