Der Anti-Modernist

Exverfassungsrichter Paul Kirchhof hat eine Mission: Er kämpft für einen guten familiären Patriotismus christdemokratischer Prägung. Eine Würdigung

VON JAN FEDDERSEN

Der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, schalt ihn neulich einen Mann, der aus Angela Merkels Kompetenzteam ein „gesellschaftspolitisches Gruselkabinett“ mache. Aber nicht allein dieser Politiker, der, so gut es die schwarzen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat erlaubten, das familienrechtliche Institut der Eingetragenen Partnerschaft („Homoehe“) durchsetzte, ist irritiert über Kirchhof. Dieser Jurist, der schon länger durch die Lande tingelt, dabei stetig sein Lied von einem Steuersystem singend, das alle glücklicher mache, wenn man nur das Gros der Subventionen und Ausnahmetatbestände aus dem Dickicht der Bestimmungen und Paragraphen streiche, bekommt sogar scheele Blicke aus den Unionsreihen. Gestern noch lobte ihn die Kanzlerkandidatin – gegen parteiinterne Kritiker, die die steuerpolitische Radikalität des Paul Kirchhof, auch im Sinne der eigenen, mittelschichtigen Kundschaft, zähmen wollten: „Wir brauchen Menschen mit klaren Zielvorstellungen, und die hat Paul Kirchhof.“

Aber welche hat er, dieser Jurist? Offenbar ist er nicht nur eine First-Class-Variante von Karl Heinz Däke, dem Chef des Steuerzahlerbundes und notorischen Ankläger des staatlichen Griffs in die privaten Portemonnaies. Womit Kirchhof provoziert, sind gerade nicht seine Statements zu diesem und jenem in Steuerrechtsfragen. Sondern das, was ihn innerlich wirklich treibt – und politisch leidenschaftlich macht: In dieser Hinsicht ist er – außergewöhnlich in der politischen Arena der Bundesrepublik – ausgesprochen offenherzig.

Was ihn treibt, ist mehr als das, was Jürgen Habermas als „Verfassungspatriotismus“ formuliert hat: Es reiche nicht, an den Staat als Hüter des Grundgesetzes zu glauben, es brauche eine über die Verfassung hinausgehende Sittlichkeit – eine nicht schriftlich fixierte, Konservative würden sagen: aber gewiss empfundene Agenda über das, was gut und was nicht gut ist für das Gemeinwesen – ein Wort, das Kirchhof übrigens mehr schätzt als „Gesellschaft“: Das trägt in sich die Kraft zur Differenz, „Gemeinschaft“ hingegen kündet von der Differenz als Übel, das zumindest gering zu halten sei.

Es muss Kirchhof geschmerzt haben, als drei Jahre nach seinem Abschied aus dem Verfassungsgericht seine KollegInnen die Homoehe als vereinbar mit dem Artikel 6 des Grundgesetzes (Schutz von Ehe und Familie) erklärten, wenn der Gesetzgeber dies so wolle. Kirchhof nannte das Gesetz wie seine höchstrichterliche Interpretation eine „Pervertierung des Verfassungsauftrags“. Das mochte als obrigkeitskritische Schelte gegen Homosexuelle noch von den meisten Heterosexuellen überhört worden sein. Aber unruhiger reagierte man, als Kirchhof neulich die Idee von „Familienglück“ umriss: „Die Mutter macht in ihrer Familie Karriere, die nicht Macht, sondern Freundschaft verheißt, nicht Geld, sondern Glück bringt.“ Davon abgesehen, dass Kirchhof, ganz in der Tradition der deutschen Romantik, Macht und Freundschaft für Antipoden hält, kündet dieser Satz von einem Bild der Familie, wie es heutzutage zwar immer noch von 98 Prozent aller Menschen in Deutschland ersehnt, aber nicht mehr realisiert wird.

Auch weiß Kirchhof zu sagen, was die Rolle des Mannes in der Familie ist: Ein Vater finde „seine Identität, wenn er die ökonomischen Grundlagen der Familie beschafft und die Kinder in ihrer Zugehörigkeit zu Familie, Staat, Marktwirtschaft und Ordnung, Kulturgemeinschaft und Kirche erzieht“. Papa sichere den „familiären Konsens“ mit „natürlicher Autorität“. Man mag diese Konfiguration einer deutschen Familie gern anschauen, wenn sie in einem in den Fünfzigern gedrehten Heimatfilmen auftaucht – und lachen. Tatsächlich aber kämpft Kirchhof, sei es in puncto Berufstätigkeit von Frauen, Verantwortung beider Elternteile für ihre Kinder, und das nicht nur im Sinne der klassisch-patriarchalen Arbeitsteilung, oder im Hinblick auf homosexuelle Verantwortungsgemeinschaften, gegen die Moderne – gegen die Formen, in denen sich heute Familie kristallisiert.

Kirchhof kämpft, so muss man ihn verstehen, nicht für seine privaten Schrullen. Er hat immer im Kopf, dass Deutschland, in seinem Verständnis, der geringen Geburtenraten wegen ein sterbendes Land ist – ohne auch nur einen Gedanken an eine Infrastruktur zu verschwenden, die es Frauen wie Männern ermöglicht, Job und Familie zu vereinbaren. Kirchhof denkt im Grunde wie ein Nationalkonservativer, der die „Intaktheit des Generationenvertrages“ sagt und Geburtenzwang meint. Wohl verstanden: Kirchhof, selbst Vater von vier Kindern, fürchtet die Moderne, die sich selbst Freiheiten stiftet – und weil Zwang der überredenden Art nicht hilft („Na, nun kriegt doch mal Kinder“), lockt er mit Steuervorschlägen, die Simplifizierungen versprechen – und doch das Bild der Familie in sich bergen, in der die Mutter den Haushalt managt und der Vater erschöpft, aber glücklich aus dem Kampf draußen nach Hause zurückkehrt, „in die Sinngebung des Lebens“, die erst „durch das eigene Kind“ erfüllt werde.

Kirchhof weiß vielleicht um die Vergeblichkeit seines konservativen Tuns. Gewiss ist nur, dass Angela Merkel an ihn Fragen zu stellen hätte: Ist sie eine Frau nach seinem Geschmack – kinderlos, verheiratet, berufstätig? Oder hat sie ihren Zweck als Glück spendende Frau im Haushalt doch mehr als nur ein wenig verfehlt?