Real ist die Angst, die alles grundiert

Was gewesen wäre, wenn der populäre Fliegerheld und Nazi-Sympathisant Charles Lindbergh 1940 die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewonnen hätte: „Verschwörung gegen Amerika“ von Philip Roth ist ein ganz und gar erfundener und dabei doch ganz und gar realistischer Roman

Lindbergh verschwindet grußlos mit seinem Flugzeug im Himmel über dem Atlantik. Roosevelt kehrt triumphal zurück

VON JÖRG MAGENAU

Fragen, die mit „Was wäre, wenn …“ beginnen, sind unter Historikern nicht sonderlich beliebt. Das Spekulieren mit bloßen Möglichkeiten gilt denen als unwissenschaftlich, die gewohnt sind, mit Quellen zu arbeiten und Fakten zu sammeln. Über Alternativverläufe der Geschichte nachzudenken erscheint da als Aufgabe für Fantasiebegabte, um nicht zu sagen: für Fantasten, also für Literaten, die doch definitionsgemäß auch für den Möglichkeitsbereich des Lebens zuständig sind.

Allerdings sind die Grenzen zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur weniger eindeutig, als es dieses Dogma nahe legt. Romanautoren jagen hierzulande neuerdings einem „relevanten Realismus“ hinterher und wollen sich, wenn sie über Vergangenes schreiben, nicht auf die Fantasie, sondern besser auf die Erzählungen der Großeltern verlassen. Die Historiker andererseits wissen durchaus, dass auch ihre Aussagen über die Vergangenheit Fiktionen sind, die Zusammenhänge und Entwicklungslinien erst nachträglich herstellen. Die Relativitätstheorie gilt nicht nur für atomare, sondern auch für historische Bewegungsabläufe: Das, was war, ist vielleicht nur durch die Perspektive des Beobachters von dem unterschieden, was gewesen sein könnte. Die Möglichkeiten überlagern sich und ergeben erst in der Summe eine komplexe Wirklichkeit.

Alternativgeschichte, die unter der Prämisse „Was wäre, wenn …“ erzählt wird, ist deshalb nicht nur Gedankenspielerei, sondern kann durchaus einen historischen Erkenntnisgewinn auslösen. Der Reiz von Romanen, die eine andere Vergangenheit entwerfen, besteht ja weniger in ihrem Potenzial an Fantastik, sondern darin, dass sie sich jederzeit an die Realität rückbinden lassen. Das machte beispielsweise den Erfolg von Robert Harris’ Roman „Vaterland“ aus – der in einem Europa spielt, in dem Hitler den Krieg gewonnen hat. Harry Mulisch hat sich sogar einmal einen Schriftsteller ausgedacht, der, nachdem Hitler den Krieg gewonnen hat, einen Roman zu schreiben versucht, in dem er sich ausmalt, was wäre, wenn Hitler den Krieg verloren hätte.

Ganz so weit geht Philip Roth in „Verschwörung gegen Amerika“ nicht. Doch auch dieser alternative Geschichtsverlauf hat mit den Nazis zu tun. Anscheinend ist der Extremfall des Faschismus die größte Herausforderung für alle „Was wäre wenn“-Experimente – vielleicht deshalb, weil der Holocaust so unfassbar und, relativitätstheoretisch gesprochen, so unwahrscheinlich ist, dass man wissen möchte, welche veränderte Weichenstellung einen anderen Fortgang der Geschichte ermöglicht hätte. Roth untersucht, unter welchen Bedingungen auch aus den USA ein faschistisches Land geworden wäre. „Verschwörung gegen Amerika“ ist ein ganz und gar erfundener und ganz und gar realistischer Roman. Er führt als Experiment aus, was in der Gesellschaft als Keim angelegt ist. Es ist ein Realismus des Möglichen. Jedes Detail wirkt so stimmig, dass man sich dieser Wirklichkeit kaum entziehen kann. Der Begriff der Parallelgesellschaft bekommt da eine ganz neue, beklemmende Dimension.

Der Roman setzt ein mit den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1940, die nicht vom Amtsinhaber Franklin D. Roosevelt gewonnen werden, sondern von seinem republikanischen Herausforderer, dem populären Fliegerhelden Charles Lindbergh. Lindbergh zieht mit dem Versprechen in den Wahlkampf, Amerika aus dem Krieg in Europa herauszuhalten. Er sympathisiert mit Hitler, trifft sich mit ihm in Island und unterzeichnet dort ein Freundschaftsabkommen. NS-Außenminister von Ribbentrop ist zu Gast im Weißen Haus und wird mit einem Bankett beehrt. Ohne dass der neue Präsident scharfe Töne anschlägt, bekommen die Antisemiten im Land Auftrieb – unter ihnen die Bierseidel schwingenden Mitglieder des „Deutsch-Amerikanischen Bundes“ –, und bald kommt es zu ersten Pogromen in der amerikanischen Provinz.

So weit die gar nicht so abwegige Fiktion: Antisemitismus und Sympathien für das gegen Russland und den Kommunismus kämpfende Nazi-Deutschland waren in den USA durchaus verbreitet. Auch Lindberghs Antisemitismus ist historisch belegt. Roth musste das Vorhandene nur ein wenig umorganisieren und in eine labile Kipplage bringen. Sein Kniff besteht darin, mitten in seine Alternativgeschichte die eigene Kindheit zu stellen. Sein kindliches Ich, seine ganz reale Herkunft ist das Zentrum der Fiktion. Er erzählt aus der Perspektive eines kleinen Jungen namens „Philip Roth“, der 1933 in Newark/New Jersey geboren wurde und in einer jüdischen Familie aufwächst. Er begreift nicht genau, was um ihn herum geschieht, bekommt aber die Folgen zu spüren, die auch die eigene Familie zu zerreißen drohen. Die jüdische Community von Newark erscheint als säkulare Gemeinschaft, in der die Menschen sich weniger durch die Religion als durch ihre Arbeit definieren. Zionisten, die mit Spendenbüchse vor der Wohnungstür stehen, kommen dem kleinen Philip sehr seltsam vor, denn er versteht nicht, welchen Grund es für Juden geben könnte, woanders zu leben. Das eigene Judentum wird erst durch den wachsenden Antisemitismus der Gesellschaft spürbar. Das ist eine Erfahrung, die auch viele Juden in Deutschland machten.

Es ist nicht überraschend, in einem Roman von Philip Roth auf einen „Philip Roth“ zu stoßen. Solche Tricks sind seine Leser gewöhnt. Einer seiner Romane hatte gar den provokanten Titel „Tatsachen. Autobiographie eines Schriftstellers“, und natürlich hieß der Schriftsteller, um den es da ging, Philip Roth. Insofern ist es ein wenig kokett, wenn er darüber klagt, dass man bei ihm andauernd Fiktives und Autobiografisches verwechsle. Er liebt dieses Verwirrspiel, um vorzuführen, dass Wirklichkeit – auch wenn es um das eigene Leben geht – eine Konstruktion ist, die sich durchaus auch am Schreibtisch herstellen lässt. Das Erzählte beansprucht eine unmittelbare Realität, die dem wirklich Geschehenen überlegen sein kann. In „Verschwörung gegen Amerika“ bewährt sich das Autobiografische mitten in der Fiktion und erfüllt sie mit Realität.

In einem nächtlichen Albtraum erscheint dem kleinen „Philip Roth“ seine geliebte Briefmarkensammlung. Doch statt Washingtons Kopf sind nun nur noch Hitlerbilder zu sehen, und die Serie amerikanischer Landschaften ist mit Hakenkreuzen überdruckt. Sein Bruder Sandy nimmt in den Sommerferien an einem Landverschickungsprogramm teil und wird dort zu einem begeisterten, dem Judentum entfremdeten Anhänger Lindberghs. Sein Vetter Alvin meldet sich freiwillig bei der kanadischen Armee, um in England gegen die Nazis zu kämpfen. Wenig später kommt er als verbitterter Invalide mit einem amputierten Bein zurück, und der kleine Philip bandagiert trotz des Ekels, den er empfindet, den nässenden Stumpf. Eine Tante heiratet ausgerechnet den jüdischen Rabbiner Bengelsdorf, der mit seinen beschwichtigenden Reden zum wichtigsten Wahlkämpfer Lindberghs und später zu dessen Beauftragten für die so genannte Integration der Juden in die amerikanische Gesellschaft wird. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine rigide Umsiedlungspolitik, die fast planmäßig Pogrome gegen die Umgesiedelten auslöst. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch der volkstribunenhafte Journalist Walter Winchell, der mit seinen Reden gegen Lindbergh die Anhänger des Präsidenten gegen sich aufbringt und schließlich vom Mob getötet wird. Winchell ist, wie alle Figuren dieses Romans, „historisch“, auch wenn er in Wirklichkeit keineswegs ermordet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus ihm ein erbitterter Antikommunist und Anhänger McCarthys. Dankenswerterweise hat Roth ein Glossar mit Kurzbiografien der Realfiguren ans Ende des Romans gestellt, sodass die Differenz zur Fiktion greifbar wird.

Real an dieser Geschichte ist die Angst, die alles grundiert und die den Roman wie eine Fanfare eröffnet: „Angst beherrscht diese Erinnerungen, eine ständige Angst. Natürlich hat jede Kindheit ihren Schrecken, doch ich frage mich, ob ich als Kind weniger Angst gehabt hätte, wenn Lindbergh nicht Präsident gewesen oder ich nicht das Kind von Juden gewesen wäre.“ Roth legt diese Angst bloß, indem er ihre gesellschaftlichen Gründe in seinem literarischen Labor verschärft. Sein Roman handelt davon, wie Angst eine Gesellschaft verändert, wie das Sicherheitsbedürfnis nach außen zu Rassenhass und Verfolgung im Inneren umschlägt. Insofern ist diese historische Fiktion ein Gegenwartsroman, der auch etwas über das heutige Amerika unter George W. Bush zu erzählen hat. Vertrackterweise haben sich die Fronten dabei aber umgekehrt. Gefährlich sind in diesem Geschichtsbild ja die Isolationisten, die sich aus dem Krieg in Europa heraushalten wollen, während der Interventionist Roosevelt zweifellos die richtige historische Position vertritt. Steht Bush also eher in der Tradition Roosevelts als in der des fiktiven Lindbergh?

Wie endet so ein Roman? Wohin kann eine alternative Geschichte führen? Roth hat darauf verzichtet, seine Fiktion über den engen Zeitraum der Jahre 1940 bis 1942 hinauszuführen. Vielleicht trägt die Fantasie im Möglichkeitsbereich nicht weiter. Doch das Ende ist wenig befriedigend. Da mündet das Geschehen sang- und klanglos wieder in die Realgeschichte ein. Lindbergh verschwindet grußlos mit seinem Flugzeug im Him- mel über dem Atlantik, als müsse er ein Vorbild für Antoine de Saint-Exupéry abgeben. Roosevelt kehrt triumphal zurück. Die USA ziehen in den Krieg. Hitler wird besiegt. Der Rest ist bekannt.

Philip Roth: „Verschwörung gegen Amerika“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Hanser Verlag, München, Wien 2005, 432 Seiten, 24,90 €