Wir müssen reden

Sprache hilft: Jonathan Safran Foers neuer Roman „Extrem laut und unglaublich nah“

VON HANNAH PILARCZYK

„Schreib, worüber du schreibst“: Als Jonathan Safran Foer die Arbeit an seinem zweiten Buch beginnt, steht noch ein Junge aus New York im Mittelpunkt, dessen Vater an einem Herzinfarkt gestorben ist und der Angst vor Flugzeugen und Hochhäusern hat. Irgendwie soll das aber nichts mit dem 11. September 2001 zu tun haben. „Schreib, worüber du schreibst“, rät ihm sein Bruder Josh. In der Endfassung von „Extrem laut und unglaublich nah“ hat der Junge nun seinen Vater in den Anschlägen auf das World Trade Center verloren. Trotzdem hat das Buch noch immer nichts mit dem 11. September 2001 zu tun. Sondern nur mit etwas ganz Ähnlichem.

Fünfmal springt am Morgen des 11. September der Anrufbeantworter der Schells an. Es ist der Vater, Thomas, der im Restaurant Windows of the World im World Trade Center bei einem Geschäftstermin ist. Die Flugzeuge sind gerade in die Türme gerast, in den Gebäuden selbst herrscht aber noch Unklarheit darüber, was passiert ist. Thomas Schell ruft zu Hause an, um mitzuteilen, dass es ihm gut geht. In der Zwischenzeit ist sein 9-jähriger Sohn Oskar aus der Schule heimgekommen. Er weiß, was in Downtown passiert ist, die Lehrer haben die Kinder nach Hause geschickt. Da klingelt das Telefon zum sechsten Mal. Es ist 10.26 Uhr. Die Türme sind noch nicht eingestürzt.

Was ab diesem Zeitpunkt für ein Jahr bei den Schells passiert, ist der Kern von Foers Buch. Im Mittelpunkt steht Oskar, den seine Visitenkarte als Erfinder, Schmuckdesigner, Goldschmied, Amateurentomologen, Frankophilen, Veganer, Origamisten, Pazifisten, Perkussionisten, Amateurastronomen, Computerspezialisten, Amateurarchäologen und Sammler diverser Dinge, von Minikakteen bis Beatles-Andenken, ausweist. Lange kann er den Verlust seines Vaters nicht verwinden und hadert mit der Mutter, die Trost bei einem Freund sucht. Doch dann deutet Oskar den Tod um: als eine Art von komplizierter Schnitzeljagd, wie er sie so oft mit seinem Vater gespielt hat. Einen geheimnisvollen Zettel mit der Aufschrift „Black“, den er in Thomas’ Sachen findet, nimmt er zum Anlass, alle Menschen mit dem Namen Black in New York zu besuchen. Das Ziel der rückwärts zählenden Suche ist bekannt: der Vater. Doch ihm kommt er während seiner Ausflüge am wenigsten nahe.

Stattdessen lernt er ein New York kennen, in dem Männer seit Jahrzehnten ihr Haus nicht mehr verlassen haben und Frauen auf dem Empire State Building wohnen. Ihre Geschichten macht Foer zu brillanten Miniaturen, die, so bizarr und fantastisch sie sind, stark an Paul Austers Erzählungen erinnern. Oskar taucht so vollends in die „Stadt aus Glas“ aus Austers „New York Trilogie“ ein. Dabei vollzieht er eine Art Eskapismus mit umgekehrten Vorzeichen. Er flüchtet in den Alltag, nicht aus ihm heraus. Am Ende seiner Ausflüge findet er so auch wieder in seinen eigenen Alltag hinein, der ihm mit dem Tod seines Vaters so fremd geworden ist.

„Extrem laut und unglaublich nah“ scheint ein heutiger, ein politischer Roman zu sein; ganz anders als „Alles ist erleuchtet“, Foers gefeierter, autobiografisch eingefärbter Debütroman, in dem ein junger Amerikaner die Ukraine besucht, aus der im Zweiten Weltkrieg sein jüdischer Großvater vertrieben wurde. Der Eindruck täuscht. Wenn man so etwas nach zwei Büchern sagen kann, hat Foer drei Leitmotive: Geschichte, Geschichten, Familie. Wobei das bei ihm eigentlich Synonyme sind.

Wie „Alles ist erleuchtet“ reicht auch die Geschichte der Schells weiter zurück als in die unmittelbare Gegenwart von entführten Flugzeugen und einstürzenden Türmen, nämlich bis in die Bombennächte von Dresden 1945. In diesen feuergetränkten Nächten verliert Oskars Großmutter ihre Schwester und Oskars Großvater seine Geliebte und ihr gemeinsames ungeborenes Kind. Großvater und Großmutter trauern um dieselbe Person. Wie sie ein Paar werden, das flechtet Foer virtuos in die Geschichte um Oskar ein.

Was die Generationen bei ihm verbindet, ist die Erfahrung von extremer Gewalt. Der Großvater sieht 1945 Menschen bei lebendigem Leib verbrennen, der Vater stirbt bei den Anschlägen vom 11. September, und Oskar bringt in die Schule Mitschnitte von Augenzeugenberichten aus Hiroshima mit.

Es ist ein brutaler Reigen, in den Foer die verschiedenen Verbrechen anordnet; und ein bedenklicher. Denn in der Reihung dekontextualisiert und entpolitisiert er Krieg und Terror. Gewalt ist bei ihm eine kollektive Erfahrung über Zeitalter und Kontinente hinweg. Nur so ist auch zu verstehen, warum am Ende dieses Romans eine Fotostrecke mit einem aus dem World Trade Center springenden Menschen abgebildet ist. Die Bilder sind so angeordnet, dass man sie als Daumenkino in Bewegung setzen kann. In der vorgegebenen Reihenfolge springt der Mensch auf den Fotos allerdings rückwärts auf das World Trade Center. Nach Foers Vorstellung fliegt hier wohl nicht ein Individuum, sondern eine Chiffre für Leid.

Hier aber kippt Foers ansonsten beeindruckendes Gespür, Muster und Codes in den kleinsten Dingen und leisesten Worten zu finden, direkt ins Obszöne. Dabei funktioniert er wie die Figuren in seinen Bücher: Sie erzählen Geschichte als Geschichten und eignen sie sich so an. Man muss Bomben nicht erlebt haben, man muss sie nur erzählen können. Vielleicht kommunizieren die Figuren bei Foer auch deshalb unentwegt. Ständig wird gefunkt, geredet, geschrieben und gezeigt. Die Mutter hat eine Selbsthilfegruppe gegründet, in der sie mit anderen Angehörigen von 9/11-Opfern spricht. Die Großmutter hat eine Autobiografie geschrieben und verfügt über ein Funkgerät, mit dem sie über die Straße hinweg mit Oskar reden kann. Der Großvater hat zwar seine Sprache im Februar 1945 verloren, doch in seine linke Hand ist ein „Ja“, in seine rechte ein „Nein“ tätowiert. Thomas Schell erzählt Oskar Gutenachtgeschichten, in denen letzte Worte in Einmachgläsern gesichert werden. Und Oskar selbst schreibt Briefe an Menschen wie Stephen Hawking oder Ringo Starr, in denen er sich als Mitarbeiter anbietet. Dass ausgerechnet Oskar in der Schulaufführung von „Hamlet“ als einziger eine Rolle ohne Text erhält und den Totenschädel darstellen muss, ist dabei nur ein feiner Schlenker.

Kommunikation ist bei Foer aber mehr als Verständigung: Es ist Verständnis. Seine Figuren verstehen sich. Sie können über das, was sie erlebt und erlitten haben, präzise Auskunft geben und ihren Mitmenschen die richtigen Eindrücke vermitteln. Vielleicht ist dieser uneingeschränkte, ungebrochene Glaube an die Sprache das Romantischste an diesem an Romantik eh nicht armen Buch. Und das Versöhnlichste.

Jonathan Safran Foer: „Extrem laut und unglaublich nah“. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 432 Seiten, 22,90 Euro