Nationalstaat oder Erlösung

Die israelische Siedlungsbewegung gibt es schon seit vierzig Jahren. Eine umfassende Analyse ist erst jetzt erschienen. Warum?

VON GADI TAUB

„Lords of the Land. The Settlers and the State of Israel“ (Zmora-Bitan Dvir Publishing House, 2005) von Idith Zertal und Akiva Eldar ist der erste Versuch, die Geschichte von Israels Besiedlung der besetzten Gebiete nahezu umfassend darzustellen. Das ist ein bedenkenswertes Faktum, da diese Besiedlung während der letzten vier Jahrzehnte das bei weitem wichtigste politische Geschehen in Israel ausmachte. Warum also erst jetzt?

Ein Teil der Antwort liegt in der Natur dieses Geschehens selbst: Es fand alles in einer trüben Grauzone von Politik, Recht, Wirtschaft und Ideologie statt, deren Konturen niemals deutlich sichtbar waren. Die Besiedlung der besetzten Gebiete war immer ein halb legales, halb geheimes Unternehmen.

Wie zum Beispiel eines der Anfangsstadien, worüber der erste Abschnitt des Buches detailliert berichtet: Im Frühling des Jahres 1968, weniger als ein Jahr nachdem Israel sich mit dem Sechstagekrieg neue Gebiete angeeignet hatte, wandte sich eine Gruppe junger Männer unter Leitung von Rabbi Levinger mit einer bescheidenen Bitte an die Militärverwaltung des besetzten Gebietes. Sie baten darum, den Pessach-Sederabend in Hebron feiern zu dürfen, der gerade erst von der israelischen Armee besetzten Stadt unserer biblischen Vorfahren. Ausgestattet mit einem Erlaubnisschreiben des Militärs, unterzeichnet vom Kommandeur der Ostfront, General Narkis, kamen sie in der Nacht des 12. April in der alten Stadt an und mieteten Zimmer im Park Hotel. Später stellte sich heraus, dass sie ihr Versprechen nicht gehalten hatten, die Stadt nach dem Feiertag wieder zu verlassen.

Premierminister Levi Eschkol war keineswegs begeistert über die ganze Sederabend-Affäre, vermochte aber nicht, die Bedeutung dieses kleinen Brückenkopfes in ihrem vollen Umfang zu verstehen und unterließ es, ein Machtwort zu sprechen. Minister Jigal Alon dagegen sympathisierte mit den Siedlern und stattete ihnen einen offiziellen Besuch ab. Andere Minister folgten. Tränennasse Augen und eine Wolke melodramatischer Rhetorik über die Rückkehr der Juden zu den biblischen Stätten, verbunden mit der Nostalgie nach den Pioniertagen des säkularen Labour-Zionismus, trübten den klaren politischen Blick.

Eschkol war unschlüssig, gebot aber seinen Untergebenen nicht Einhalt. Sein Verteidigungsminister Mosche Dajan, ein weiterer Kriegsheld, verfiel auf den Kompromiss, die Gruppe vorübergehend in das Gebäude der Militärverwaltung umzusiedeln, bis eine dauerhafte Lösung gefunden würde. Die Siedler fassten das als eine Art offizieller Anerkennung auf. Sie versuchten bereits, für ihre Kinder eine Schule im Park Hotel zu improvisieren.

Als die Sache erneut in einer Kabinettssitzung vorgebracht wurde, beschloss die Regierung, diejenigen, die bereits dort waren, nicht zu evakuieren. Nach und nach entstand eine Siedlung. Eine Tatsache vor Ort. Die Armee wurde aktiv, um sie zu schützen. Und da die Siedlung nun einmal da war, stimmte im September desselben Jahres eine Regierung, die nie beabsichtigte, irgendwelche besetzten Gebiete zu besiedeln, dem Bau eines jüdischen Viertels in der Stadt zu. Das sollte zu einem festen Muster werden: Es werden Tatsachen vor Ort geschaffen, Armee und Bürokratie rücken nach, und schließlich gewährt die Regierung rückwirkend ihre Zustimmung.

Erstaunlicherweise änderte sich dieses Muster auch unter den Likud-Regierungen nicht sehr, die seit 1977 den Bau von Siedlungen entschieden förderten und deren Zahl erheblich vergrößerten. Es gibt einige Gründe dafür, warum die Entwicklung im Verborgenen blieb: Die Regierung zog es vor, einen Großteil davon halbwegs geheim zu halten. Nach internationalem Recht ist es einer Besatzungsmacht nicht erlaubt, ihre Bürger auf besetztem Gebiet anzusiedeln; selbst Israels wichtigster Verbündeter, die USA, missbilligten dies – anfänglich. Da selbst die militantesten Regierungen nicht bereit waren, die besetzten Gebiete zu annektieren, trugen auch sie dazu bei, die Kluft zwischen de facto und de jure zu vergrößern.

Zweitens übertrafen die Ambitionen der Siedler immer auch erheblich die Ambitionen selbst noch der am meisten mit ihnen sympathisierenden Regierungen. Deshalb erschien auf der zunehmend wilden Westbank weiterhin alles mehrdeutig und nichts wurde beim Namen genannt. „Lords of the Land“ beschreibt, wie Landnahmen als Erweiterung militärischen Sperrgebiets ausgegeben wurden, wie neue Siedlungen zuerst als „Viertel“ bereits existierender Siedlungen ausgegeben wurden, wie juristische Termini verdreht wurden, wie Regierungsgelder auf geheimen Wegen abgezweigt wurden oder wie bürokratischen Hierarchien zur Umgehung der üblichen Verfahren seltsame Buckel wuchsen.

Was wirklich geschah, entzog sich weitgehend dem Blick der Öffentlichkeit. Eine erstaunliche Geschichte: Einer Gruppe von Glaubenseiferern, nicht mehr als zwei Prozent der Bevölkerung Israels, gelingt es, die Unfähigkeit der Nation, über die besetzten Gebiete zu entscheiden, in einem außergewöhnlichen Maße auszunutzen. Bei unterschiedlichen Graden von Sympathie und Antipathie seitens verschiedener Regierungen waren sie imstande, das ganze Land in eine Lage zu bringen, über die nie debattiert, geschweige denn entschieden worden war.

Diese kleine Gruppe, getrieben von der Gewissheit, nichts weniger als den Willen Gottes zu vertreten, leitete, hegte, beschützte und erhielt diese Bewegung am Leben, die darin kulminierte, dass zum Schluss fast eine Viertelmillion Juden in den besetzten Gebieten lebten. Es gelang ihnen fast, die Besetzung – angesichts dreieinhalb Millionen arabischer Bewohner – in eine permanente Annexion zu verwandeln.

Aber es gelang ihnen nicht ganz. Der zeitliche Rahmen von „Lords of the Land“ reicht bis an den Punkt, wo dies klar geworden zu sein scheint: Ariel Scharons Einführung des Disengagementplans im vorigen Jahr. Erst nach Erscheinen des Buches hat die israelische Regierung dem Plan und der Errichtung eines Grenzzauns zugestimmt, die sich der Grünen Linie (Israels internationaler Grenze von 1967) mehr als jemals zuvor nähern. Diese Mauer muss zwangsläufig die zukünftige Grenze werden. Zum ersten Mal sieht es nun so aus, als ob die Geschichte der Besiedlungen zu Ende geht. Das mag der zweite Grund dafür sein, dass so lange auf ein solches Buch gewartet werden musste: Erst von diesem Zeitpunkt aus kann die ganze Geschichte – mit einem Anfang, einer Mitte und einer Art Ende – erzählt werden.

Aber das Buch enthält keineswegs nur eine einzige Erzählung. Es ist in Abschnitte eingeteilt, die von den verschiedenen Aspekten der Besiedlung der besetzten Gebiete handeln.

Es beginnt mit einer Chronik, einer geradlinigen politischen Geschichte der Siedlungsaktivitäten und Regierungsaktionen, und geht dann über zu einer relativ gut dokumentierten Seite des Geschehens, der Theologie und Ideologie des Gusch Emunim (Block der Getreuen), der treibenden Kraft hinter der Bewegung. Dann werden spezielle Aspekte behandelt: die Kultur der Siedler, die Beziehungen zum Militär, die rechtliche Seite und schließlich die Regierung Scharon der letzten Jahre. Der ökonomische Aspekt, wie die Autoren eingestehen, fehlt, er bedürfe weiterer Forschungsanstrengungen.

Die Einteilung in Abschnitte war vielleicht keine kluge Entscheidung, Zertal und Eldar hätten lieber alles in einen Erzählstrang integrieren sollen. Der schwerer wiegende Mangel des Buches liegt jedoch woanders: Es erklärt nicht, warum die israelische Regierung und die israelische Wählerschaft schließlich das Siedlungsprojekt ablehnten. Das nämlich ist in den letzten Jahren klar geworden: dass der Zionismus und die Siedlerbewegung ideologische Gegensätze sind.

Dem Zionismus geht es um ein Gebiet, wo die Juden die Mehrheit bilden und das Recht auf Selbstbestimmung ausüben können; der Siedlerbewegung dagegen geht es darum, das Land der Vorväter zu erlösen als Teil eines umfassenderen religiösen Erlösungsplans. Für den Zionismus ist eine jüdische Demokratie der Zweck, für die Siedler ist der jüdische Staat nur ein Mittel auf dem Weg zur Erlösung.

Durch den Pulverdampf des Krieges oder die Bemühungen, den Terrorismus zu bekämpfen, oder durch hochfliegende Rhetorik darüber, was sie tatsächlich gemeinsam haben – den Glauben an die Notwendigkeit eines jüdischen Staates – konnten beide Seiten vermeiden, sich ihrer Rivalität zu stellen. Aber wenn es hart auf hart kommt, müssen ihre Grundwerte sich notwendig als unvereinbar erweisen. Die arabische Bevölkerung der besetzten Gebiete wächst rapide auf die Marke von vier Millionen zu. Zusammen mit der einen Million arabischer Bürger Israels innerhalb der grünen Linie würden sie 2010 die Mehrheit in Israel stellen. Die Geburtenraten in den besetzten Gebieten übertreffen die der Juden oder der arabischen Bürger innerhalb der grünen Linie. Die kollektive Selbstbestimmung der Juden ist nun ernsthaft gefährdet. Und an diesem Scheideweg wollte nicht einmal Scharon als der Zionist, der er nun einmal ist, die jüdische Demokratie aufgeben im Tausch gegen „erlöste“ Gebiete. Die messianischen Siedler dagegen klammern sich an die besetzten Gebiete, auch wenn immer deutlicher wurde, dass das Verbleiben dort bedeutete, dass die Juden bald eine Minderheit in ihrem eigenen Land sein würden. Aus der Sicht der Siedler ist Disengagement undenkbar: Das Mittel – der säkulare Staat – hat sich gegen den Zweck gewandt, das heißt gegen die religiöse Erlösung durch die Befreiung des Heiligen Landes.

Da der Staat für die Siedler nur ein Mittel war, wird die ganze Geschichte im Rückblick deutlich: Sie hatten keine Bedenken, den demokratischen Prozess durch „Tatsachen vor Ort“ zu untergraben, weil die Siedlungen Teil von „Gottes Politik sind, und keine irdische Politik konnte sich dem entgegenstellen“, wie es der Gründer der Bewegung, Rabbi Kook, formulierte. Jetzt, da das Mittel den Zweck negierte, hatten einige Siedler keine Bedenken, ebendieses Mittel selbst preiszugeben: Einige ihrer Rabbis riefen wiederholt die Religiösen unter den Soldaten dazu auf, Räumungsbefehle zu verweigern. In der letzten Zeit begannen manche Polemiker und geistige Führer der Siedler sogar, die Wahl des Mittels selbst zu beklagen. Einige halten nun das ursprüngliche Bündnis mit dem säkularen Zionismus für einen Fehler.

Die Kollision der beiden Weltanschauungen – Zionismus und messianische Siedlerbewegung – hatte sich seit langem abgezeichnet und drängt sich dem Leser von „Lords of the Land“ bei jeder Seite auf. Das ist vielleicht der wichtigste Grund, warum ein solches Buch so lange auf sich warten ließ. Von heute aus betrachtet, wird die verborgene Bedeutung der Auseinandersetzung klar: das Drama des Zionismus gegen seinen fähigsten Widersacher – den messianischen Kult der Land-Erlöser.

Manchem Gerede zum Trotz steht Israel nicht am Rande eines Bürgerkrieges. Auch wenn einige zu den Waffen greifen, sind die Siedler nicht zahlreich genug, und die meisten von ihnen werden ihre messianischen Hoffnungen nach der Räumung [auch der Westbank; Anm. der Red.] aufgeben und sich widerwillig dem Staat unterwerfen. Die unnachgiebigen Gläubigen sind gefährlich, aber zu wenige, um eine ernsthafte militärische Bedrohung darzustellen. Sollten sie sich gegen die Armee wenden, werden sie die letzten Reste von Sympathie verlieren.

Besiedlung und Besetzung mussten einmal mit dem Zionismus kollidieren, und jetzt tun sie es schließlich auch. Die Erlösung der besetzten Gebiete steht nun in einem deutlichen Kontrast zum Inhalt der israelischen Unabhängigkeitserklärung: Die moralische Grundlage des Zionismus besteht in dem „naturgegebenen Recht“ aller Völker auf Selbstbestimmung.

Wir stehen an einem historischen Kreuzweg. Wenn wir am Konzept des „erlösten“ Landes festhalten, werden wir die jüdische Mehrheit, auf der die zionistische Vision beruht, aufgeben müssen. Entweder Apartheid mit den besetzten Gebieten oder Demokratie ohne sie. Jetzt, da Ariel Scharon, seit Jahren der große Schutzherr der Siedlerbewegung, von den Ereignissen in die ihm so fremde Rolle eines Abraham Lincoln gedrängt worden ist, entfaltet sich dieser Kampf, bei dem es um nichts weniger als die Seele des jüdischen Staates geht, direkt vor unseren Augen.

GADI TAUB, Jahrgang 1965, Historiker und Publizist, lehrt Public Policy an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Sein Beitrag – und dessen Übersetzung durch Siegfried Kohlhammer – stammt aus Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken