Der Parteiintellektuelle

Peter Glotz hat sich an der SPD die Zähne ausgebissen. So zog er sich seit Mitte der 90er immer mehr in die Wissenschaft zurück

Glotz wollte an der Spitze des technischen Fortschritts marschieren

VON CHRISTIAN SEMLER

Ein langer Abschied ging gestern zu Ende. Schon seit den 90er-Jahren hatte sich Peter Glotz, einst einer der führenden Intellektuellen der SPD, von allen Positionen verabschiedet, die Macht und Einfluss verhießen. Sie waren sich fremd geworden, Glotz und seine Partei, der er Jahrzehnte gedient hatte, als Vor-, Nach- und Querdenker, als Fronarbeiter im Apparat der Sozialdemokratie, als nimmermüder Produzent von Einschätzungen, bildhaften Schlagworten, Programmen von kurzer bis beträchtlicher Reichweite. Gestern ist er nach schwerer Krankheit verstorben.

Glotz, gebürtiger Sudentendeutscher, entstammte dem Milieu der bayrischen Sozialdemokratie. Sein Geburtsjahr, 1939, weist ihn eigentlich als Mitglied der 68er-Kohorte aus, die die Jahrgänge von 1938 bis 1948 umfasst. Aber Generationseinteilungen trügen oft. Peter Glotz dachte als Junger in den Bahnen seines Ziehvaters Waldemar von Knoeringen, nach dem Krieg ein Verfechter der SPD nicht als Klassen-, sondern als Volkspartei, ein gemäßigter Reformist, kultur- und fortschrittsbewusst. Wie sein Meister war der angehende Medienwissenschaftler Glotz Anhänger der Godesberger Wende, von der er sich den Durchbruch der Partei zur Modernität versprach. Nach ersten Zwischenstationen als Bildungsexperte in Bayern wie im Bund arbeitete er als parlamentarischer Staatssekretär im Bildungsministerium und gehörte zu den Ingenieuren der sozialdemokratischen Bildungsreform der 70er, die erstmals das Tor der Universitäten für so viele Arbeiterkinder (und nicht wenige künftige Professoren aus den Reihen der 68er) öffnete. Als Bildungssenator nach Berlin berufen, verfolgte er das Projekt einer Gesamthochschule neuen Typs – freilich vergeblich. Aus dieser Zeit stammen auch erste Irritationen zwischen Glotz und der SPD, scheute sich der Senator doch nicht, auf dem Berliner Tunix-Kongress der Spontis aufzutreten oder mit Verbreitern des berühmt-berüchtigten Mescalero-Aufrufs („klammheimliche Freude“) zu diskutieren.

An der SPD hat sich Glotz in den 80er-Jahren als Generalsekretär die Zähne ausgebissen. Er wollte den Aktionskreis der Grundorganisationen erweitern, wollte Ringe von Sympathisanten um die immobile Parteiorganisation legen, fast alles vergeblich. Sodass nur seine Metapher von der Partei als schwer manövrierbarem Tanker übrig blieb.

Zur zeitweiligen ökologischen Wende der Partei, wie sie im Berliner Programm unter Federführung Erhard Epplers Ende der 80er-Jahre zum Ausdruck kam, hat er nichts beigetragen. Dem gegenüber baute er als Generalsekretär Brücken zu den Angestelltenmilieus, vor allem dem der technischen Intelligenz, eine Arbeit, deren Ernte Schröder viel später, 1998, mit der „neuen Mitte“ einfahren sollte.

Glotz war ein intellektueller Vielfraß, immer auf dem Stand neuester Theoriebildungen, ob es sich nun um die Entwicklung der Informationstechnologie handelte, den Wandel der Arbeitswelt oder eine linke Strategie für die europäische Sozialdemokratie. Von Bedeutung war hier eine weitere Wortprägung – die der „Zweidrittelgesellschaft“, mit der er früh auf die drohende Gesellschaftsspaltung infolge der industriellen Entwicklung zur „Informationsgesellschaft“ hinwies. Damals freilich mit Gegenstrategien, die der gesellschaftlichen Integration des vom Ausschluss bedrohten Dritten verpflichtet waren.

Glotz wollte immer an der Spitze des technischen Fortschritts marschieren, in den 90er-Jahren verband sich allerdings seine Feier des „digitalen Kapitalismus“ mit einer zunehmend resignativen bis feindlichen Haltung gegenüber den gesellschaftlich Ausgeschlossenen. Sie sollten nur noch ruhig gestellt werden. Jetzt rächte sich in der Analyse wie in den Rezepten der für Glotz typische Hang zur vorschnellen Verallgemeinerung, zu raschen, griffigen Formulierungen, die, kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen, schon wieder ersetzt wurden.

Glotz war stets ein Kind der alten Bundesrepublik, daher das Misstrauen gegen Berlin als Hauptstadt, daher seine Furcht vor einem neuen deutschen Großmachtnationalismus und dem damit verbundenen Geschichtsrevisionismus, eine Furcht, der er schon kurz nach der deutschen Vereinigung Ausdruck gab. Umso mehr erstaunt seine späte Unterstützung des vom Bund der Vertriebenen (BdV) getragenen Zentrums gegen Vertreibungen – ganz so, als hätte der BdV jahrzehntelang nicht gegen die Verständigungspolitik in Richtung Osten gestanden, der sich Peter Glotz verschrieben hatte.

Jetzt also kein Streit mehr, sondern nur die Erinnerung an den stets im Stakkato redenden, stets tief ernsten, stets vor Kenntnissen überbordenden und immer neu verblüffenden Zeitgenossen. Wir werden ihn vermissen.