Der Hofnarr zweifelt wieder

Kein Kampf mehr, kein Aufbegehren, keine Erektion, alles Biologie: Aus den katastrophischen Auswirkungen des Alters wird in Michel Houellebecqs neuem Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ wieder die ganz große Abrechnung. Übertroffen nur von der Heftigkeit seiner Kritiker in Frankreich

Kritiker, die kein Leseexemplar bekamen, mussten sich mit einer Homestory über Houellebecqs Musikvorlieben begnügenDaniel 1 verzweifelt daran,alle zugkräftigen Themen wie Rassismus und Kannibalismus schon durchzuhaben

VON GERRIT BARTELS

Michel Houellebecqs neuer Roman „Die Möglichkeit einer Insel“ ist ein trauriger Roman. An seinem Ende steht die Erkenntnis, dass gerade die lautesten Schreie nach Liebe nie erhört werden und dass das Streben nach ein bisschen Glück zwar berechtigt, aber selten von Erfolg gekrönt ist. Und trotzdem geht es nicht ohne Liebe und Glück, nicht mal bei den potenziell „neuen“ Menschen in einer fernen Zukunft. Gleichzeitig ist „Die Möglichkeit einer Insel“ ein durchaus lustiger und quasselseliger Roman, der viel Aufwand betreibt, um zu seiner nicht ganz so weltbewegend neuen Erkenntnis von der Vergeblichkeit der Glücks- und Liebessuche zu kommen. Aufwändig ist er dabei nicht so sehr formal und stilistisch, das war noch nie Michel Houellebecqs Anspruch – ganz im Gegenteil, Schlichtheit ist hier erste Schreibpflicht –, sondern im Ersinnen von hübsch naturalistisch-sexistisch-abenteuerlichen Szenarien, die den Lesefutteranteil seines Romans bis zum Ende schön hoch halten.

Im Science-Fiction-Überbau etwa leben die „Neo-Menschen“ Daniel 24 und später sein genetischer Nachfolger Daniel 25 getrennt von anderen Neo-Menschen in ihren so genannten Intermediar-Stadien, und zwar nach den Lehren der „Höchsten Schwester“ von „Central City“. Um sich ganz auf die Ankunft der „Zukünftigen“ vorzubereiten und nicht die Fehler von einst zu machen, um die Schwächen, Neurosen und Zweifel der Menschheit überwinden zu können, studieren die Danielklone sehr genau die diesen Roman größtenteils konstituierenden Lebensberichte von Daniel 1, ihres Ursprungsdaniels.

Dieser war ungefähr zweitausend Jahre zuvor ein zwar erfolgreicher, politisch unkorrekter, moralisch indifferenter, aber auch gebrochener und frustrierter Komödiant: Das Ende der Jugend und der Schönheit machen ihm zu schaffen, das unerbittliche Altern und die ewige Lust auf Sex. „Der einzige Ort auf der Welt, an dem ich mich je wirklich wohlgefühlt hatte, war in den Armen einer Frau, wenn ich tief in ihrer Scheide steckte“, sagt er einmal. Bald darauf landet er in einer Sekte, dessen Chefwissenschaftler intensiv an der Herstellung eines künstlichen Menschen arbeitet, dem Prototyp der Daniels 2 bis 25.

Nun ist der Aufwand dieser Szenarien nur unwesentlich größer als die Heftigkeit des Wirbels, den Houellebeqcsr Roman schon im Vorfeld seines Erscheinens in Frankreich ausgelöst hat. So gab es vom Verlag Fayard, der Houellebecq für viel Geld von seinem Stammverlag Flammarion abwarb, Rezensionsexemplare nur für ausgewählte Kritiker. Wer leer ausging, musste sich mit einer ausschließlich Houellebecq gewidmeten Sondernummer der Rockzeitschrift Les Inrockuptibles begnügen. Neben vielem wieder abgedruckten Bild- und Interviewmaterial gewährte Houellebecq der Zeitschrift immerhin einen Besuch in seinem Domizil in Südspanien und verriet dabei den Reportern so Weltbewegendes wie seine Vorliebe dafür, beim Schreiben Bach und Pink Floyd zu hören; oder dass er inzwischen seinen Mercedes 500 SLK gegen einen Peugeot Coupé ausgetauscht habe, um damit nach Irland zu düsen und seinen Hund Clément wiederzufinden, „der Einzige, der sich der ganzen probeweisen Schriftstellerei verweigert“.

Werbestrategie hin oder her, jedenfalls rächte sich der ebenfalls nicht mit einem Vorabexemplar bestückte Literaturchef des Figaro, Angelo Rinaldi, zwei Wochen vor Romanveröffentlichung am 1. September in Frankreich mit einem heftigen Verriss: Er erklärte, er hätte das Buch auf einer Parkbank gefunden, es wäre wohl beim Transport aus dem Lastwagen gefallen, von jemand angelesen und dann auf besagte Bank gelegt worden.

Zu allem Überfluss gibt es dieser Tage in Frankreich eine – natürlich nicht autorisierte – Houellebecq-Biografie des französischen Journalisten Denis Demonpion, in der dieser zum Beispiel „enthüllt“, Houellebecq hätte sein Geburtsjahr um zwei Jahre nach hinten verlegt, von 1956 auf 1958. Auch sonst versuche er, so viele biografische Spuren wie möglich zu verwischen. (Wer will das einem Schriftsteller wie Houellebecq verdenken?)

Gut vorstellbar, dass Michel Houellebecq sich bei dem ganzen Zauber tatsächlich sehnsüchtigst wünscht, eines Tages ein autark lebender Michel 25 oder ein Michel 26 zu sein; dass er selbst „die Existenz einer residuellen geistigen Tätigkeit“ führen möchte, „die keinerlei Interessen verfolgt und der reinen Erkenntnis gewidmet ist“. Sogar, nur noch Körper sein zu wollen, nimmt man ihm als Traum ab, auch wenn das niemals gelingt.

Zumindest dürfte Houellebecq sich bestätigt fühlen in seiner abermaligen Beschreibung des Verfalls der postmodernen Gesellschaft und mehr als nur einen Gleichgesinnten haben in seiner Hauptfigur Daniel 1, Komiker und „Humanist wider Willen“, Islamverhauer und Regisseur von Filmen wie „Lasst uns Miniröcke mit dem Fallschirm über Palästina abwerfen“.

Weniger gut nachzuvollziehen aber ist der aufgeregte Zauber um „Die Möglichkeit einer Insel“ vor dem Hintergrund, dass Michel Houellebecq mit seinem Buch vor allem seine seit dem 94er-Büchlein „Ausweitung der Kampfzone“ verwandten Motive, Themen und Figuren samplet und dabei überhaupt keinen Hehl mehr daraus macht, auf welcher richtigen und moralisch einwandfreien und romantischen Seite des Lebens er sich selbst stehen sieht. Das hatten wir in den diversen Ausformungen doch schon mal: den radikalen Individualismus, an dem unsere Gesellschaft zugrunde geht, das Streben nach immer mehr Sex und immer mehr Geld, die Geld-ist-Sex-und-Sex-kostet-Geld-Schlawinereien, das Versiegen der Liebesfähigkeit, die Sache mit dem Altern und überhaupt all die ganzen Perversionen des Lebens. Und im Gegensatz dazu die Gentechnologie, das Züchten von „Neo-Menschen“, die leise Hoffnung auf einen tatsächlich neuen Menschen, ja selbst die „Insel“, Lanzarote, auf der die Elohimiten, besagte Sekte, ihr Hauptquartier haben. All das ist nicht so ganz frisch.

Neuer ist, dass Houellebeqcs Daniel 1 nicht nur eine zynische, geld- und sexgierige Drecksau ist, sondern von Anfang an eine Figur mit schwer gebrochener Persönlichkeit. Er durchschaut die eigene Branche und ihre Verwandten (Film, Pop, Medien) schon lange; ja, er verzweifelt daran, weil er alle zugkräftigen Themen wie Rassismus, Pädophilie, Kannibalismus etc. schon durchprobiert hat und weiß, dass nur die Pornografie immer wieder zieht; und er taugt dann nicht mal zu einer Balzac’schen Figur, weil er seinen Millionen nicht noch mehr Millionen hinzufügen will und sich mehr oder weniger zur Ruhe setzt.

Daniel 1 ist ein Durchblicker, wahlweise ein Clown, ein Spion, ein Hofnarr, eine Art Kollaborateur: „Ich ersparte der Welt schmerzhafte und überflüssige Revolutionen – denn die Wurzel aller Übel war biologisch bedingt und unabhängig von jeder erdenklichen Form gesellschaftlicher Veränderung; ich sorgte für Klarheit, verhinderte aber die Aktion und vernichtete die Hoffnung; meine Bilanz war ziemlich gemischt.“

Kein Kampf mehr, kein Aufbegehren, keine Erektionen, alles Biologie, alles Schlaffheit, und dann das Alter und seine katastrophischen Auswirkungen mitsamt dem Krieg der Generationen: Das ist die Quintessenz aus diesem Roman, mit der Houllebecq frühzeitig herumzuwedeln beginnt und mit der er sich selbst die Spitze aller Radikalität, aller Provokanz nimmt, um schließlich vor allem viel catchy Leerlauf zu produzieren. Man ist da schnell einverstanden mit ihm, „genau, so ist es doch!“, man weiß schnell, dass das mit der Liebe von Daniel zu der 22-jährigen Esther eine einseitige Sache ist, und findet es nur noch halb so schlimm, wenn ihn die Jungen bald nicht mehr mitmachen lassen und er nur noch seinen Tod herbeisehnt. Dass das zweitausend Jahre später mit Daniel 25 ebenfalls nichts wird, als dieser entgegen der Lehre der „Höchsten Schwester“ ausbricht aus seinem intermediären Dasein und die Möglichkeit einer Insel auskundschaftet, die Möglichkeit von Liebe, Fürsorge, Geborgenheit, und nichts davon findet, das ist nicht mehr nur traurig, sondern schlimmer: die pure Resignation.

Michel Houellebecq: „Die Möglichkeit einer Insel“. Aus dem Französischen von Uli Wittmann, Dumont, Köln 2005, 443 Seiten, 24,90 €