Die kultivierte Leere

Die Infoelite wird nicht müde, ihr Leid zu klagen: Überall herrsche geistige Leere. Albernes Geschwätz! Es ist nur schwieriger, sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Auftakt zur Serie „Auch nicht mehr das, was sie mal waren?“ (1): die kritische Öffentlichkeit

Die neue Serie: Auch nicht mehr das, was sie mal waren? Im Wahlkampf neigt die Infoelite wider besseres Wissen zu einer totalen Fixiertheit auf Parteien und ihre Spitzenpolitiker. Und klagt dabei über eine intellektuelle Leere, über fehlende Impulse aus den anderen Gruppen der Gesellschaft. Wie steht es wirklich um den geistigen Zustand der Republik? Teil 1: Die kritische Öffentlichkeit

VON BETTINA GAUS

Es ist schon bitter. Wohin man auch schaut: geistige Leere. Theo Sommer beklagt in der Zeit den Zustand der Zivilgesellschaft: „Sie ist zersplittert in vielfältige Interessengruppen, eigensüchtige Lobbys, denen der partikulare Vorteil über das Gemeinwohl geht. Die Schriftsteller, die Intellektuellen – vor einer Generation noch Hefe im Teig unseres politischen Lebens – sind verstummt. Unter den Hochschullehrern gibt es nur noch wenige, die das Unterholz des Spezialistentums überragen und uns den Blick öffnen für das große Ganze.“

Aber vielleicht kann man Hoffnung in die Grundschullehrer setzen, wenn die Hochschullehrer so jämmerlich versagen? Nein, kann man nicht. Als „Kindheitsbeerdigungsanstalt“ bezeichnet Andreas Kilb im Feuilleton der FAZ die staatliche Grundschule, auf die sein Sohn hätte gehen sollen. „Ein Backsteinkasten mit überaltertem Lehrkörper und schlechtem Ruf.“ Keine Ausnahme, wie er meint: „Wenn man sich im Bekanntenkreis umhört, trifft man fast niemanden mehr, der sein Kind auf die bequem zu erreichende Einzugsgrundschule schickt, viele nehmen hohe Schulgelder, weite Wege und sogar plötzliche Wohnungswechsel in Kauf, um ihren Nachwuchs auf einer Privatschule unterbringen zu können.“ So also geht es zu im Bekanntenkreis von FAZ-Autoren? Das erklärt manches.

Alex Rühle setzt sich im Feuilleton der Süddeutschen mit der Frage auseinander, weshalb es derzeit „keinen kulturellen Generationenkonflikt“ gibt. Und kommt zu dem Ergebnis, dass es am Egoismus liegt. Er zitiert den Juristen und Soziologen Felix Ekardt mit der Behauptung, gerade bei Jugendlichen sei die Vorstellung verankert, „es geht um mich und mein einzigartiges Leben. In dieser egoistischen Perspektive verbündet man sich nicht mit anderen.“ Rühle meint, es gehe allen nur noch darum, „für die eigene Alterskohorte möglichst viel von den weniger werdenden Ressourcen abzukriegen“. Die Jungen hätten gemerkt, „dass sie sich ein Aufbegehren gar nicht mehr leisten können. Nur wer sich brav und lange anstellt, kriegt eventuell noch Krümel ab vom jährlich kleiner werdenden Kuchen.“

Egoistisch sind übrigens auch die Schriftsteller und Intellektuellen. Eva Menasse überlegt sich – ebenfalls in der Süddeutschen –, weshalb nur wenige Autoren die von Günter Grass initiierte Solidaritätserklärung für Rot-Grün unterzeichnet haben. Sie sieht „verschämte und fallweise wohl auch opportunistische Zurückhaltung“ und hält das für „ein Symptom des ganzen traurigen Zustands. Deutschland ist müde, so müde, dass es nur mehr jammern kann und sich fürchten.“

Zumindest scheint dies für weite Teile des deutschen Feuilletons zu gelten. Nicht einmal der Fernseher kann von der Misere noch ablenken: „Glotze aus!“, befiehlt der Stern und verspricht die Erklärung, „warum das Fernsehen so langweilig geworden ist“. Im Text findet sich dann allerdings der versöhnliche Hinweis: „Es ist natürlich nicht so, dass im Fernsehen alles schlecht ist. Man muss nur ziemlich lange buddeln, bis man einen Schatz ausgräbt.“ Und: „Es gibt mehr Großartiges als je zuvor. Es gibt mehr Schrott als je zuvor. Es gibt unendlich mehr Schrott als Großartiges.“

Ja, so ist das wohl. Aber was ist daran neu? Auch früher hatte Konsalik eine höhere Auflage als Heinrich Mann, und die ZDF-Hitparade war beliebter als Fidelio. Und nach wie vor gibt es durchaus Leute, die sich anderweitig zu beschäftigen verstehen, wenn sie gerade mal nicht jammern oder sich fürchten.

Sie lesen beispielsweise eines der etwa 80.000 – 80.000! – neuen Bücher, die jedes Jahr in Deutschland erscheinen. Viele verfasst von Schriftstellern, die ja verstummt sein mögen, aber doch immerhin offenbar noch schreiben können. 270.000 Besucher kamen im letzten Jahr zur Frankfurter Buchmesse. Mehr als 20 Millionen Theater- oder Opernkarten werden jährlich in der Bundesrepublik verkauft. Und über 8 Millionen Eintrittskarten allein für Museen in Berlin. Dort stehen Bildungshungrige gelegentlich sogar Schlange.

Viele von denen, die nicht zum Bekanntenkreis von Andreas Kilb zählen und ihren Nachwuchs noch immer auf staatliche Schulen schicken, gehören Fördervereinen für diese Schulen an, die unter anderem dafür sorgen, dass auch Kinder aus ärmeren Familien mit auf Klassenreise fahren können. Insgesamt gibt es in Deutschland übrigens nach Schätzungen des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen in Berlin über 20.000 Hilfsorganisationen, die Spenden für karitative Zwecke sammeln. Einschließlich der Sachspenden bekommen sie jährlich rund rund 4 Milliarden Mark zusammen.

Wenn die Jungen mal Pause machen beim braven Anstehen um Kuchenkrümel, dann tun sie das, was Jugendliche weltweit und zu allen Zeiten am liebsten getan haben: Sie treffen Freunde. Aber nicht nur. Über ein Drittel ist Mitglied in einer Organisation oder einem Verein, neben Sportklubs zum Beispiel bei amnesty, bei Greenpeace, beim THW oder bei der freiwilligen Feuerwehr. Parteien sind nicht so populär, das ist wahr. Sagt das mehr über den Zustand der Zivilgesellschaft aus oder über den der Parteien?

Nun sind Klagen über den Verfall von Anstand, Moral und Gemeinsinn so furchtbar neu bekanntlich nicht. Schon Sokrates soll ja geschimpft haben: „Überhaupt spielen die jungen Leute die Rolle der Alten und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen.“ Und der Titel des Buches von Kurt Sontheimer, „Das Elend unserer Intellektuellen“, traf so sehr den Nerv der Gesellschaft, dass er binnen kürzester Frist zum geflügelten Wort werden konnte. 1976 ist das Buch erschienen. Als die Elenden nach Ansicht von Theo Sommer also gerade die Hefe im Teig des politischen Lebens waren. Wie sagte der Prediger Salomo? „Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt ewiglich. Und geschieht nichts Neues unter der Sonne.“

Dabei könnte man es bewenden lassen und allenfalls darüber verwundert sein, dass gebildete Publizisten sich nicht selbst ein bisschen albern vorkommen, wenn sie derart alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen. Wäre nicht genau das eine interessante Frage: Warum kommen sie sich denn nicht albern vor? Und warum teilen Autoren jedes Alters und Geschlechts dieselbe angewiderte Verachtung der Zustände? Es gibt ja nicht nur in der Gesellschaft keinen Generationenkonflikt. Sondern offenbar auch nicht in den Feuilletonredaktionen.

Wenn man den Gründen dafür nachgehen will, dann kommt man um einige sehr altmodische Begriffe leider nicht herum. Kapitalismus, beispielsweise, oder auch: Produktionsbedingungen. Nüchterne Statistik beweist, dass die Leute heute auch nicht egoistischer sind als früher und die Schriftsteller nicht weniger produktiv. Die Zersplitterung der Gesellschaft in vielfältige Interessengruppen, von der Sommer schreibt, ist ebenfalls weder neu noch für sich genommen beklagenswert, sondern spätestens seit der Industrialisierung ganz unvermeidlich.

Etwas allerdings hat sich in den letzten Jahren tatsächlich grundlegend geändert: Es ist sehr viel schwieriger geworden, sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Das Internet hat die Zugangsmöglichkeiten zu Informationen aller Art demokratisiert – einerseits. Andererseits hat es die Kanalisierung von Diskussionen erschwert.

Es ist ja nicht so, dass es keine neuen, interessanten Autoren mehr gäbe oder keine innovativen Musiker. Es gibt zu viele davon. Niemandem ist es mehr möglich, sich auch nur annähernd einen Überblick über das zu verschaffen, was im Angebot ist. In jedem Falle ist genug im Angebot, um auch noch das ausgefallenste Spezialinteresse zu bedienen. Deshalb gibt es keinerlei Notwendigkeit mehr, sich mit Thesen oder künstlerischen Produkten auseinander zu setzen, die einem nicht so gut gefallen. Ein Mausklick genügt, und man ist im warmen Nest der eigenen Community. Nicht eine plötzliche Zersplitterung in Interessengruppen ist das Merkmal unserer Zeit, sondern die Zersplitterung der Öffentlichkeit in viele kleine Teilöffentlichkeiten.

Medien könnten diesem Trend entgegenwirken, wenn sie ihrer traditionellen Aufgabe gerecht würden, Orientierungshilfe zu bieten. Aber warum sollten sie? Die Konzentrationsprozesse der letzten Jahre – und sie sind bekanntlich noch nicht abgeschlossen! – haben gigantische Großkonzerne entstehen lassen. Großkonzerne sind keine Mäzene. Sie wollen nicht viel Zeit und Geld für differenzierte Erörterungen oder Experimente mit ungewissem Ausgang aufwenden, sondern Geld verdienen. Möglichst viel und möglichst schnell. Deshalb setzen sie auf Masse und Bewährtes. Goldene Zeiten, in denen die hohe Auflage von Bild bereits als Gefahr für die Demokratie gesehen wurde! Das war erst der Anfang, wie wir heute wissen.

Zersplitterung auf der einen Seite, Monopolbildung auf der anderen: Das ist die Realität des modernen Kapitalismus. Zu dieser Realität gehört auch, dass der Staat verarmt. Runter mit den Steuern! Und das Kind dann eben nicht in den alten Backsteinkasten schicken, sondern auf die schicke Privatschule. Die besseren Stände quengeln auf hohem Niveau.