Die lernende Organisation

Vier Jahre nach den Anschlägen von 2001 weiß al-Qaida: Um zu überleben, muss sie zu einer Bewegung und zu einer Idee werden. Genau das tut sie mittlerweile mit Erfolg

Die Anschläge von London vom 7. Juli sind zweifellos von al-Qaida inspiriert; mehr aber wohl kaum

„Eigentum des Gästehauses, nicht entfernen!“, stand auf den Büchern, die Journalisten und Geheimdienstler aus aller Herren Länder im Dezember 2001 aus den noch rauchenden Trümmern zerrten. Der Afghanistankrieg hatte gerade begonnen, die Ausbildungslager des Terrornetzwerks al-Qaida lagen in Schutt und Asche, und da waren sie: Die Schulungshandbücher der Mudschaheddin, ein gutes Dutzend Bände, mehrere tausend Seiten, bis dahin streng geheim. Die legendäre „Enzyklopädie des Dschihad“.

Die angekokelten Terror-Fibeln wurden schnell zum Symbol für einen vermeintlich entscheidenden Etappensieg im „Krieg gegen den Terror“: Nie wieder würde al-Qaida in der Lage sein, unbehelligt Nachwuchs auszubilden, schienen sie zu verhießen. Und tatsächlich hat der Verlust der afghanischen Basis der Terrororganisation empfindlich geschwächt. Ussama Bin Laden und der Rest der Führungsspitze ist noch heute vor allem damit beschäftigt, zu überleben.

Doch tot ist al-Qaida nicht. Istanbul, Bali, Casablanca, Khobar in Saudi-Arabien, zuletzt London, die Sinai-Halbinsel, die jordanische Hafenstadt Aqaba, und immer wieder Bagdad: Das Terrornetz ist nach wie vor in der Lage, größere Anschläge in verschiedenen Staaten durchzuführen. Das eigentlich Verstörende an dieser Serie aber ist: Bei vielen Planern und noch mehr Tätern handelt es sich nicht um erfahrene Al-Qaida-Kader, die den Bombardements am Hindukusch entkommen sind und die man nur aufspüren müsste, um dem Spuk ein Ende zu bereiten.

Wir haben es stattdessen vielfach mit Neumitgliedern zu tun, die mit der Urorganisation nie etwas zu tun hatten. Die Terrororganisation hat auch heute kein Nachwuchsproblem; vielmehr hat sie einen Weg gefunden, unter veränderten Bedingungen in veränderter Form weiter zu bestehen.

In einigen Regionen – etwa in Saudi-Arabien oder im Irak – ist al-Qaida noch eine mehr oder weniger fest gefügte Organisation; hier gibt es Bekennerschreiben, Briefköpfe und bekannte Biografien der Anführer. Anderswo aber wandelt sich al-Qaida zur Bewegung, gar zur bloßen Idee, die man militärisch gar nicht bekämpfen kann, die ihrerseits jedoch weiterhin Terroranschläge hervorbringt.

So wurden etwa die Anschläge von London vom 7. Juli zweifellos von al-Qaida inspiriert; mehr aber wohl kaum. Die vier Selbstmordattentäter suchten und fanden vielmehr die Schnittstelle zwischen ihrer Wahrnehmung der eigenen, offenbar als sinnentleert empfundenen Migrantenexistenz im Westen und der Al-Qaida-Ideologie, die eine Aufwertung durch den Opfertod versprach. Sie fanden auch die zweite Schnittstelle: Die zwischen ihrem Plan und Leuten mit Beziehungen zum islamistischen Terrorismus, die ihnen bei der Umsetzung halfen. Nach diesem Muster liefen auch andere Anschläge ab.

Diese Schnittstellen bietet al-Qaida seit dem Verlust der afghanischen Basis offensiv an. Das Internet ist das Medium dazu. „Du brauchst nicht mehr nach Afghanistan reisen“, schrieb im Sommer 2004 der Chef der saudischen Al-Qaida-Filiale, Abd al-Aziz al-Mukrin. „Bilde selber Zellen!“. Eine Anleitung lieferte er dann gleich mit. „Schließ dich der Karawane an!“, sekundierte der Statthalter al-Qaidas im Irak, Abu Musab al-Sarkawi.

Schulungsmaterial wie die Enzyklopädie des Dschihad, das früher wie Geheimwissen behandelt wurde, wird heute in aktualisierten Versionen im Internet herumgereicht. Online-Magazine verbreiten die dazu gehörige Ideologie ebenso wie Ratschläge zur Sprengstoffherstellung oder zur Einreise in den Irak.

In Internetforen werden E-Mail-Adressen ausgetauscht, über die man Al-Qaida-Kader kontaktieren kann; um die Einsendung von Anschlagsplänen zur Begutachtung wird ausdrücklich gebeten. „Das Internet ist unsere Fernuniversität“, schrieb ein Aktivist kürzlich in einem Forum. Jeder darf seinen Beitrag leisten.

Al-Qaida macht so vor, was Unternehmen oft mit weniger Erfolg versuchen: Sie wird zur lernenden, interaktiven, sich weiter entwickelnden Organisation – und zugleich immer stärker zur Bewegung, weil als Folge die Grenze zwischen Terrorist und Anhänger verschwimmt. Das beste Beispiel dafür sind die Hinrichtungsvideos aus dem Irak und aus Saudi-Arabien, die im letzten Jahr die Weltöffentlichkeit erschütterten.

Die goldene Regel des Terrorismus verlangt, mit wenig Aufwand maximale Wirkung zu erzielen. Ein Messer, eine Geisel, eine Kamera – mehr brauchten die Terroristen für ihre grauenhafte Tat nicht. Doch zum Erfolg für die Dschihadisten wurden die Akte erst, weil die Videos im Internet tausendfach verbreitet wurden. Wenn aber jemand ein solches Band kopiert und verlinkt, damit es noch mehr Zuschauer findet – ist der dann noch Sympathisant oder schon Komplize? Schließlich ist die Weiterverbreitung der Bilder notwendiger Bestandteil des Terrorakts.

Funktionieren kann diese Neuerfindung der al-Qaida nur, weil ihre Ideologie für viele junge Islamisten attraktiv ist. Es ist nichts als ein Zerrbild, wenn im Westen gelegentlich behauptet wird, al-Qaida habe eine „Fantasy-Ideologie“ oder sei im Kern areligiös. In Islamisten-Ohren ergibt das meiste, was Bin Laden & Co. verbreiten, Sinn. Al-Qaida versucht seit Jahren, den Widerstand gegen die als tyrannisch empfundenen islamischen Regime und gegen den Westen, dem gegenüber die sich willfährig verhalten, zu monopolisieren – nicht ohne Erfolg.

Ussama Bin Laden und der Rest der Führung sind noch heute primär damit beschäftigt, zu überleben

Im Dezember 2004 veröffentlichte der Al-Qaida-Chef seine letzte große Rede. Im Westen wurde anschließend nur über jene Passage berichtet, in der er den USA drohte; zwanzig äußerst eloquente Manuskriptseiten zur saudischen Innenpolitik und gegen das Königshaus blieben hier unberücksichtigt. So aber gewinnt Bin Laden seine Sympathisanten: Er sagt, was arabische Volksvertreter, wo es sie denn gibt, zu sagen meist nicht wagen.

Bereits ein halbes Jahr zuvor inszenierte er sich erstmals als Führer der islamischen Massen, indem er den Europäern Frieden im Gegenzug für einen Irak-Abzug anbot – ein deutliches Signal, dass er selbst überzeugt ist, eine signifikante Zahl Muslime auf seiner Seite zu haben. Einer aktuellen Studie zufolge nimmt die Popularität Bin Ladens außer in Jordanien in den arabischen Ländern deutlich ab. Doch selbst wenn das stimmt: In jedem dieser Länder liegt der Sockel seiner Sympathiewerte deutlich im zweistelligen Bereich; es gibt Gegenden, in denen al-Qaidas Ideologie den Diskurs bestimmt. Allein.

Natürlich hat der „Krieg gegen den Terror“ al-Qaida viele unersetzbare Kapazitäten gekostet; ein Anschlag auf dem Niveau des 11. September ist auf absehbare Zeit undenkbar. Militärisch ist die Organisation, die im Dezember 2001 al-Qaida war, also so gut wie zerschlagen. Doch die ihr zugrunde liegende Idee lebt weiter. Und gedeiht. Mit Folgen, die noch nicht abzusehen sind.

YASSIN MUSHARBASH