Seelen unter Tage

Als der Bergbau noch Stoff für die Romantik war: Tief zurück in die Industriegeschichte kehrt Andrea Breths Inszenierung „Nächte unter Tage“ zum Beginn der RuhrTriennale

Im tiefsten Raum – ist es der tiefste? – hat jemand die Kleider ausgebreitet, die durch die Schächte von oben geworfen werden. Man geht darüber wie über ein knirschendes Meer, es riecht nach Speicher, Kindheit und Vergangenheit, nach Tod und Mittagsschlaf und abgelegtem Leben, Besucher gehen hindurch wie Angehörige, Wächter oder Forscher, und leise hört man Ziehharmonika.

Mit der Installation „Nächte unter Tage“ haben der Künstler Christian Boltanski, die Regisseurin Andrea Breth, der Autor Albert Ostermaier und Jean Kalman, der Licht-Designer, für den Auftakt der RuhrTriennale ein „Zwischenreich“ geschaffen, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint wie in einem romantischen Märchen. Der Weg durch die Kokerei Zollverein gleicht einem Traum, in dem Heimliches und Unheimliches, Menschliches und Maschiniertes, Lebendiges und Lebloses zusammenfließen. Man fährt durch einen Schacht in einem Wagen vom Wiegeturm zur Mischanlage, den Weg, den die Kohle nahm, bevor die Kokerei Zollverein in Essen 1993 stillgelegt wurde.

Wie Nachtschattengewächse empfangen die Besucher hohle Mäntel, die oben an einer Schiene bewegt werden und lebendig scheinen – woher kommt der Gesang, woher kommen die Tippgeräusche, wenn man weitergeht? Hier wird gearbeitet, routiniert, und später denkt man: auch maschiniert, als Figuren, die wie in einem Heimatmuseum im Halbdunkel sitzen, doch plötzlich erwachen und lärmend ihre Arbeit aufnehmen. Im Pausenraum läuft ein Radio aus den Fünfzigern, die Uhr geht nach, wie lange hat man das Tageslicht nicht mehr gesehen, während Heinz Erhardt über Arbeitslosigkeit witzelt, Fanfaren für „Die Zeit im Funk“ erklingen und Zeitungsausschnitte – „Ich fühle mich elend und in die Ecke gestellt“ – zu lesen sind.

Die Zeiten gehen ineinander über, und die Räume verschachteln sich: Es gibt eine Art M.C.-Escher-„Runenberg“, das bleiche Licht pulsiert oder gleitet, ein Brautkleid fährt sanft nach oben, zu einer weichen Stimme in einer fremden Sprache, Hoffmanns „Olympia“ vielleicht oder eine H.-C.-Andersen-Figur, rechts daneben sind in einem Raum Bänke aufgestellt wie in einer gotisch-dunklen Kirche, links ist es eine Bibliothek, starre Gestalten sitzen da, die plötzlich wieder verschwunden sind oder für die Ewigkeit in Büchern lesen, jemand schreibt in ein Heft und murmelt dabei – sind das ihre „Stimmen“, die man hört? Der Schall begleitet durch die Räume wie Sirenengesang oder Kokereiarbeit, ein „Gefangener“ sitzt auf dem Boden, dessen Stimme sich nicht einordnen lässt zwischen gefährlich, verschlagen, alt oder jung, sinnierend, wetternd und leidend. Auf dieser „Romantiker“- Etage liegen Fetzen wie von etwas Geplatztem am Boden, das sich weitergeschleppt hat, zum Licht oder weg davon.

Auch das Licht ist ein „Dazwi-schen“, ein Zwielicht, meistens fahl und schräg und abgedimmt, funzelig, düster oder staubig, aber blickt man vom Dunkel ins Licht, ist jeder Durchgang ein Bild oder Scherenschnitt. Manchmal wird das Stille plötzlich lebendig – wie der Nebel, durch den man geht, den Kopf knapp über dem Nebel-See, der verschwindet, sobald man danach greift, dann kommt der nächste Nebel-Stoß, ein ewiges Rollen.

Es tropft, der Boden der gewellten Röhre, durch die man weitergeht, ist nass und sandig wie in einem Tarkowskij-Film. Am Ende spielt jemand mitten in einem großen, rechteckigen See auf einem Flügel. Und weil es dunkel ist, bemerkt man erst spät am Lufthauch, dass man wieder im Freien ist. Es ist, als wäre man durch die Zeit gereist, durch ein gigantisches Seelenwerk, in dem persönliche, kulturelle und regionale Geschichte ständig ineinander übergehen.

CHRISTIANE ENKELER