Der Nachkrieg ein Irrenhaus

Zwischen Ruinen blitzt der Glamour auf: Das Filmfestival in Sarajevo hat sich in seinem elften Jahr endgültig als wichtiges Podium für die Filme Südosteuropas etabliert. Als weitere Aufbauleistungen sind die üblichen schweren Limousinen und der obligatorische rote Teppich auszumachen

VON CLAUS LÖSER

Die mitsamt ihrem Bestand von zwei Millionen Büchern im Sommer 1992 ausgebrannte Universitätsbibliothek, der Torso des einstigen Luxus-Hotels „Evropa“, die berühmt-berüchtigte „Sniper Alley“ im Westen des Zentrums mit ihren unzähligen Einschusslöchern: Obwohl seit 1996 große Anstrengungen zum Wiederaufbau geleistet wurden, bleiben Krieg und Zerstörung im Stadtbild von Sarajevo unübersehbar. (Zu schweigen von unsichtbaren Verwundungen und Narben.) Von April 1992 bis Februar 1996 wurde Sarajevo von serbischen Truppen belagert – Ziel war dabei weniger eine Eroberung der Metropole als vielmehr die Zermürbung ihres multiethnischen und -religiösen Gepräges; von ganz profanen Gewinnabsichten durch Handel und Schmuggel einmal ganz abgesehen. Auch um das „Jerusalem des Balkans“ vor der beabsichtigen inneren Zerstörung zu bewahren, wurde 1994, also noch unter Beschuss, das Sarajevo Film Festival gegründet.

Nach elf Jahren präsentiert es sich als arrivierter, international gut bestückter Branchentreff. Zwischen den Ruinen blitzt Glamour auf: schwere Limousinen, roter Teppich, Kellner im Livree und mit weißen Handschuhen; fast hundert Sponsoren tummeln sich im Anhang des umfangreichen Katalogs. Als neben Thessaloniki wichtigstes Podium für Filme Südosteuropas bietet der Wettbewerb das Aktuellste und Kontroverseste der Region. Wie im Stadtbild der Gastgeberstadt selbst sind auf ihren Leinwänden der Zerfall Jugoslawiens, Bürgerkrieg und Neuausrichtung allgegenwärtige Themen geblieben.

„Bušenje Mrtvih“ (Awakening from the Dead) von Miloš Radivojević zieht aus serbischer Perspektive bittere Bilanz. Mit dem Beginn der Bombardierungen auf Belgrad im März 1999 steigt ein Intellektueller aus seinem Grab, ihm bleiben 48 Stunden, um noch einmal die ihm am nächsten stehenden Menschen aufzusuchen. Seine Versuche, sich zu artikulieren, offen gebliebene Beziehungen zu erklären, scheitern. Die vorgefundene Wirklichkeit erscheint ihm zunehmend als entfärbtes Zwischenreich, dem das Grab im Zweifelsfall vorzuziehen ist.

Mit „Jug Jugoistok“ (South by Southeast) versucht noch ein zweiter Beitrag, die Orientierungslosigkeit Serbiens in filmische Form zu gießen, diesmal mit Mitteln der Groteske. Regisseur Milutin Petrović konstruiert eine krude Story um die abgehalfterte Schauspielerin Sonja, die in Belgrad nach ihrem Sohn sucht, den es vielleicht gar nicht gibt. Die Filmemacher greifen dabei nach allen Versatzstücken, die durch den Rost der filmischen Postmoderne gefallen sind, und kleben sie zu einem absurden Puzzle aus Verschwörungstheorie, Thriller, Trash und natürlich Hitchcock-Hommage zusammen. Das Ergebnis fällt heterogen aus, bietet aber ausreichend Kurzweil.

„Kukumi“ von Isa Qosja ist einer der wenigen Filme, die bisher im Kosovo gedreht wurden. Nach dem Abzug der Serben wagt eine Gruppe von Psychiatrie-Insassen den Schritt in die Freiheit und kehrt nach einer Reihe von desillusionierenden Abenteuern freiwillig hinter die Mauern der geschlossenen Abteilung zurück. In teils handverlesenen Tableaus und mittels gleichnishafter Situationen beschreibt Qosja die Welt als Irrenhaus, in das zu begeben sich nicht lohnt.

Unter den Filmen, die die unmittelbare Kriegs- und Nachkriegsperspektive des Balkans verließen, war „Leidi Zi“ (Lady Zee) von Georgi Djulgerov aus Bulgarien wohl der interessanteste. Er verfolgt die Wege eines ungleichen, im Waisenhaus aufgewachsenen Paares, überrascht mit verblüffenden Wendungen und völlig unsentimentaler Darstellung sozialen Elends im bulgarisch-griechischen Grenzgebiet; herausragend die ebenso fragile wie starke Anelia Garbova in der Titelrolle.

Als mindestens genauso reizvoll wie die in Sarajevo gezeigten Filme erwiesen sich die Begegnungen und Gespräche. Nur wenige Festivals bieten dafür ein vergleichbares Umfeld. Ob im Sa-Club zu Balkan-Blues-Klängen, ob auf der Flaniermeile Ferhadija, inmitten der im aufwändigen Sonntagsstaat stundenlang hin und her schlendernden Einheimischen – stets ergaben sich Momente, in denen man geneigt war, dem Herzen als offiziellem Logo des Festivals seinen Kitschgehalt zu verzeihen.