Kirchhof testet Nerven der Rentner

Merkels Steuerexperte Kirchhof will künftig Rentensystem mit Kapitaldeckung. Unionszentrale dementiert sofort: „Renten werden nicht gekürzt.“ Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) bezichtigt Kirchhof der „Quälerei von Millionen Menschen“

VON CHRISTIAN FÜLLER
UND HANNES KOCH

Schattenfinanzminister Paul Kirchhof wird für Kanzlerkandidatin Angela Merkel (CDU) immer unberechenbarer. Gestern ging Kirchhof auf die wichtigste Wählergruppe los, die die Bundesrepublik kennt: die Rentner. Die traditionelle Rente stecke in einer „schweren Finanzkrise“, verunsicherte Kirchhof knapp 20 Millionen Ruheständlern. Der Generationenvertrag zwischen Jung und Alt „muss auf eine neue Basis gestellt werden“, sagte er in der Süddeutschen Zeitung. Zu Deutsch hieße das: Die Rente mag vieles sein– sicher ist sie nicht.

Kirchhofs Aussagen waren kaum öffentlich, da rückten auch schon die Feuerwehrleute aus der Wahlkampfzentrale der Union aus. Die Vorschläge seien voll mit den Unionskonzepten vereinbar, behauptete frech der Sozialexperte der Union, Andreas Storm. Und CDU-Generalsekretär Volker Kauder beeilte sich zu versichern: Die Rentner müssten keine Einbußen befürchten. „In den nächsten vier Jahren werden die Renten nicht gekürzt.“ Die Rentner machen knapp 30 Prozent der Stimmberechtigten bei der Bundestagswahl aus.

Es ist bereits die zweite Rückrufaktion für Kirchhof. Mit einer radikalen Steuerreform, die einen Einheitstarif von 25 Prozent vorsieht, hatte der Professor eine Welle von Unionsdementis ausgelöst. Auch in Sachen Rente findet sich nichts von Kirchhofs Radikalität im Unionsprogramm. Angela Merkel lege großen Wert auf ihr Versprechen an die Rentner, hieß es ärgerlich in der Unionsspitze, „dass wir sie vier Jahre lang in Ruhe lassen“.

Kirchhof freilich hatte die RentnerInnen geradezu aufgeschreckt. Die Zukunft der Rente heiße nicht wie bisher Umlage, sondern Eigenvorsorge, fordert der Professor aus Heidelberg. „Man gibt das Geld einer Versicherung, die legt es an, und im Alter lebt man vom Ertrag.“

Das wäre eine Revolution. Heute ist es – von der Riesterrente abgesehen – so, dass die Ruheständler nicht auf eigene Rechnung vorsorgen, sondern von den Rentenbeiträgen der aktuell arbeitenden Bevölkerung leben. In den Jahren ab 2020 wird dies nicht mehr funktionieren. Das gibt jeder Rentenexperte zu. Nur von Politikern wünschen sich Wahlkampfstrategen diese Ehrlichkeit nicht.

Im Grunde liegen in Kirchhofs Vorschlägen gar keine Gefahren für die Höhe der aktuellen Renten. Allein: Die Alten sind nervös. Der so genannte Nachhaltigkeitsfaktor der rot-grünen Regierung kürzt die Renten schrittweise. Auch die mit diesem Jahr einsetzende Besteuerung der Renten schmälert die Vorsorge. Obendrein will die Union die Rentner mit der geplanten Erhöhung der Mehrwertsteuer belasten. Jede unbedachte Rentenäußerung könne also die schlummernde Majorität wecken. Und, wie eine Unionswahlkämpferin monierte, „ein neues gefährliches Thema setzen – und das drei Wochen vor der Wahl“.

Als Erster wusste natürlich der Medienkanzler, in welch gefährliches Terrain sich Kirchhof gewagt hatte. Wenn er höre, dass dieser Professor die Rente wie eine Kfz-Versicherung behandle, sagte Gerhard Schröder, „dann wird darin ein Menschenbild deutlich, das wir bekämpfen müssen. Menschen sind keine Sachen.“ Und Schröders Gesundheitsministerin, Ulla Schmidt (SPD), dramatisierte, die von Kirchhof vorgeschlagene Kapitaldeckung bedeute eine „völlig überflüssige Quälerei von Millionen Menschen“.

Bert Rürup, Vorsitzender des Sachverständigenrats der Bundesregierung, äußerte sich zurückhaltender. „Ich weiß nicht, was Kirchhof eigentlich will. Mit den Reformen der Regierungskoalition wurden die Weichen in die richtige Richtung eines mischfinanzierten Alterssicherungssystems gestellt“, sagt er. „Einen völligen Umstieg zur Kapitaldeckung will heute in Deutschland niemand mehr.“