„Wir sind zu sehr auf den Staat fixiert“

Der amerikanische Katastrophenschutz ist so gut organisiert, dass sich die deutschen Kollegen daran ein Beispiel nehmen sollten. Dennoch war er angesichts der Katastrophe überfordert. Darunter leiden besonders die Armen

taz: Herr Dombrowsky, das System des amerikanischen Katastrophenschutzes ist derzeit sehr umstritten. Warum?

Wolf Dombrowsky: Da es abhängig ist von der Arbeit der Local Planning Committees, die es in jeder Gemeinde gibt. Da sitzen der Sheriff, die Kirche und andere Organisationen und machen die Notfallpläne. Wenn diese Leute engagiert sind, tut sich enorm viel. Aber wenn sie keinen Durchblick haben, sind alle Formen der politischen Einflussnahme möglich. Und es gibt Stimmen in den USA, die sagen, die Local Committees im Gebiet von New Orleans waren nicht sehr wirkungsvoll.

Also funktioniert das System doch nicht?

Ich glaube nicht, dass man das so sagen kann. Der amerikanische Katastrophenschutz ist gut organisiert. Im Allgemeinen haben sie ausreichend Ressourcen. Die übergeordnete Koordinationsstelle, die Federal Emergency Management Agency (Fema), ist auch gut gerüstet und die Schulung der hauptamtlichen Kräfte ist beispielhaft. Ich glaube eher, dass die Amerikaner von der Dimension überrascht wurden. Wir sind außerdem in Deutschland auch ein bisschen komisch. Wenn bei uns so etwas wie Eschede passiert, also ein Zug entgleist, wird gleich von nationaler Katastrophe geredet. Ich möchte mal sehen, was loswäre, wenn eine ganze Großstadt evakuiert werden müsste.

Europa ist eben etwas kleiner.

Ja, und auch kleinmütiger. Wann mussten in Europa mal 20.000 Leute in einem Sportstadium ausharren. Wenn bei uns zwei Turnhallen voll sind, ist es gleich eine Katastrophe.

Ist in den USA die Erwartung der Menschen an den Staat und an dessen Katastrophenschutz anders als bei uns?

Völlig anders. Die amerikanische Mentalität ist bis heute frontier: Ich stehe an der Grenze, dann kommt meine Familie, dann erst die Kommune, meistens im Sinne der Kirchengemeinde – im Süden ganz wichtig. Nach dem Staat wird sehr spät gerufen. Deswegen sieht man auch im Fernsehen andere Dinge, glaube ich. Da ist nicht gleich der Bundeskanzler da und geht über den Deich.

Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott?

Ja, so komisch es klingt, aber das ist dort Lebensrealität.

Liegt in den USA der Schwerpunkt eher auf der Warnung vorher als auf dem Retten hinterher?

Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. In Deutschland ist das Warnsystem vollkommen desolat und taugt gar nichts. In den USA ist es täglicher Bestandteil des Lebens. Da stehen auf den Packpapiertüten im Supermarkt Warnungen: „What to do in case of hurricane“. Dauernd wird im Fernsehen und Radio über die Lage informiert. Was wir hier am wenigsten würdigen, ist die Tatsache, dass sehr früh gewarnt und rechtzeitig mit der Evakuierung begonnen wurde. Was wir dagegen an Problemen sehen, ist der langfristige sozialpolitische Zündstoff dieses Landes: die, die nichts haben, erwischt es am härtesten. Deswegen marschiert auch immer gleich die Nationalgarde auf, da sich soziale Konflikte im Windschatten solcher Katastrophen entladen.

In Deutschland heißt es immer, wir wollen nicht zu viel warnen, sonst glaubt uns irgendwann niemand mehr die Gefahr.

Empirisch betrachtet haben die USA eindeutig Recht. Das so genannte Crying-Wolf-Syndrome ist die obrigkeitsstaatliche Angst vor dem mündigen Bürger. Mehr nicht.

Man kann als Deutscher aus der Hurrikan-Katastrophe also noch einiges lernen?

Ich predige seit Jahren, dass man von den USA lernen sollte. Weil ich die Einrichtung der Local Planning Committees für gut halte.

Trotz ihrer Schwächen?

Trotz der Schwächen, ja. Ich glaube übrigens, wenn man das mit dem engagierten deutschen Potenzial von Bürgerinitiativen verbände, hätten wir hier ganz schön was am Laufen. Auch die Kampagnen der Fema sollte man sich anschauen. So was wünschte ich mir in Deutschland. Das A und O allen richtigen Verhaltens in solchen Situationen ist rechtzeitige Warnung und gründliche Information. Und es gibt dort auch eine staatliche Infrastruktur, die funktioniert – dass das jetzt ein bisschen knapp wird, ist der Größe geschuldet.

Wie kommt es dann dazu, dass viele Leite in ihren Häusern bleiben? Ist es, im Gegensatz zu Deutschland, jedem selbst überlassen, ob er Hilfe annimmt?

Ja. Und auch das halte ich für ein obrigkeitsstaatliches Missverständnis bei uns. In den USA heißt es: Wenn wir dir Schutz anbieten und du ihn nicht annimmst, dann stehst du allein. Bei uns wird umgekehrt argumentiert, dass man für die Leute erst recht verantwortlich ist, wenn sie in Not geraten. Ich glaube, wir sind viel zu obrigkeitsstaatlich fixiert.

INTERVIEW: KAI BIERMANN