Im Zwischenland

Inka Parei erzählt von den Leichen im Keller des Lebens – „Was Dunkelheit war“

VON JÖRG MAGENAU

„Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“, schrieb einst William Faulkner – ein Satz, den Christa Wolf an den Anfang ihres Erinnerungsromans „Kindheitsmuster“ stellte. Bei Inka Parei klingt er ein bisschen anders: „Die Toten sind nicht vergangen, kein einzelner. Und die Vergangenheit ist auch nicht vergangen.“ Vom Tod, vom Erlöschen und vom Erinnern und von den Leichen im Keller des Lebens handelt ihr zweiter Roman, „Was Dunkelheit war“, für dessen Eingangskapitel sie vor zwei Jahren mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Parei, 1967 in Frankfurt am Main geboren, kehrt damit in ihre Heimatstadt zurück, nachdem sie in ihrem 1999 erschienenen Debütroman „Die Schattenboxerin“ die Archäologie West- und Ostberlins zur Wendezeit vorgelegt hatte.

Hauptfigur ist nun ein alter Mann um die siebzig, Ort des Geschehens ein Haus in Frankfurt-Rödelheim, in der Nähe der Nidda. Der Mann, der in Berlin lebte, hat das Haus von einem gewissen Müller geerbt, der 1943 als in Russland vermisst gemeldet wurde, an den er sich aber nicht erinnern kann. Hat er damals jemandem das Leben gerettet? Sein Umzug liegt erst ein paar Monate zurück. Er hat ihn genutzt, um Inventur zu machen und fast alles zurückzulassen, was er besaß. Es ist die Nacht vom 6. auf den 7. September. Dass es sich um das Jahr 1977 handelt, wird aus ein paar beiläufig eingestreuten Details deutlich, die der Alte aus Gesprächsfetzen in der Nachbarschaft und aus Zeitungsartikeln aufnimmt. Beckenbauer hat bei Cosmos New York angeheuert, Elvis Presley ist tot, und in Deutschland wurde der Arbeitgeberpräsident entführt.

Nach einem Sturz in seiner Wohnung hat der alte Mann sich mit letzter Kraft in sein Bett gerettet und versucht angestrengt, das Dunkel seines Lebens zu durchdringen. Die Gegenwart mit ihren Geräuschen und einigem mysteriösen Geschehen gibt ihm dabei nicht weniger Rätsel auf als die Bilder, die sich aus den Tiefen der Erinnerung aufdrängen. Eine Gastwirtschaft ist im Haus untergebracht und eine Metzgerei mit Wurstküche im Keller, die mit ihren verchromten Gerätschaften an eine Pathologie erinnert. An den Haken hängen Trockenwürste, „aneinander gedrängt wie haltbar gemachte Zeit“. In der Pension nebenan nächtigt ein Fremder, der den Alten an jemand erinnert und ihm keine Ruhe lässt. Er liegt da und kann sich nicht mehr erheben, doch in Gedanken schweift er umher und versucht, den vergangenen Tag noch einmal abzuschreiten.

Wenn er in Gedanken hinausschaut aus dem kleinen Fenster des Treppenhauses, ist es ihm, als blicke er in eine andere Zeit: „Ob Zukunft oder Vergangenheit, das war in solchen Momenten gleich.“ Ja, mehr noch: Je mehr die Ereignisse der Gegenwart verschwimmen, umso plastischer drängen sich die Erinnerungsbilder auf, als könnte man sich in ihnen bewegen. Dabei verdichtet sich das Leben auf wenige entscheidende Momente. Ein Birkenwald, ein blutiger Pfosten, eine Axt weisen nach Russland. Was ist dort geschehen? Gibt es etwas Verdrängtes, was dieses Leben bestimmt hat? Auf subtile Weise verschränkt sich im Bewusstsein des alten Mannes die Schuld der Vergangenheit mit einer bedrohlichen Gegenwart, in der die RAF mit ihrem Terrorismus die Gesellschaft herausfordert – jedoch ohne dass er diesen Zusammenhang begreifen könnte. Allein die kluge, unaufdringliche Konstruktion der Erzählung verdeutlicht diese Pointe.

Inka Parei ist eine äußerst präzise und zurückhaltende Erzählerin, die sich viel Zeit lässt. Die sinnlichen Details sind ihr wichtiger als die Reflexion. Sie beobachtet lieber, als sich einzumischen. Sie schreibt sehend. Ihr Erzählperspektive ist der Blick, und so erkennt sie auch, wie fragwürdig selbst das dinglich Fassbare ist. Sie schreibt: „Es hatte ihn schon immer gestört, dass zwei Augen, auch wenn sie zu einer Person gehörten, nie dasselbe sahen.“ An keiner Stelle ist sie klüger als ihr Held, dessen Bewusstseinsstrom sie geduldig wiedergibt – auch dann, wenn er sich in Nebensächlichkeiten verirrt. Das Bedeutende und das Unbedeutende sind eben nicht so leicht auseinander zu halten. Auch wenn es darum geht, eine letzte Bilanz zu ziehen, kann es sein, dass bloß der letzte Spaziergang im Park an der Nidda auftaucht, als ließe sich von hier aus das ganze Leben deuten – ein Leben als Postbeamter, von dem es anscheinend nicht sehr viel zu berichten gibt. Wäre da nicht der Krieg mit den erschütternden Erlebnissen in Russland, wäre da nicht eine große, aber verpasste Liebe im geteilten Deutschland, dann gäbe es wenig, was die Gegenwart mit ihren Geräuschen und Bedrohlichkeiten übertönen könnte. „Man kam auf diese Erde, lebte, aber man spürte nicht, wie die Zeit verging“, heißt es auf den letzten Seiten des Buches. „Und schließlich war das Leben zu Ende, und man musste hinnehmen, dass man nichts begriff, die einfachsten Dinge gar nicht begriff.“

Mit großer Souveränität bewegt sich Inka Parei in einer Bewusstseinsregion, die sie als „Zwischenland“ bezeichnet, irgendwo zwischen Todesnähe und Traum, nervlicher Überreiztheit und der Verselbstständigung des Denkens, in der jede Sekunde der Nacht zur Ewigkeit wird, während das Vergangene sich immer mehr beschleunigt. Inka Parei setzt keine gesuchten Metaphern, sondern benutzt die Dinge selbst als Metaphern: den Tiefkühlkeller mit den erstarrten Fleischbrocken, die Uhr auf dem Nachttisch, die in einer Blechkiste steht, sodass die Zeit im Innern unsichtbar weitertickt, das zerkratzte Schloss der Feuerschutztür, das den Alten beunruhigt, weil er „nicht auf den Grund sehen will“. Das ganze umgebende Haus wird zu einer großen Metapher des Daseins, ohne dass das aufdringlich wirkt. Hinter dem Fenster zum Hof streiten sich zwei Kinder. Ein Mädchen schleicht sich heimlich zum Sohn des Wirts. Bauarbeiter pflastern die Straße. Der Metzger lädt scheppernd metallene Fleischwannen auf seinen Lieferwagen. Eine Straßenbahn fährt vorbei. Und hinter allem lauert das Geheimnis der verstreichenden Zeit.

Am Ende steht die schmerzliche, erlösende Einsicht, dass nichts mehr von Bedeutung ist. Aber die Anstrengung, etwas zu entdecken, lässt dennoch nicht nach, solange Leben vorhanden ist.

Inka Parei: Was Dunkelheit war“. Roman. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2005, 170 Seiten, 18,90 Euro