Natürlich wollen wir heiraten und fortgehen

Das brasilianische Kino bringt’s – was man in Deutschland gerade sehr gut an Jorge Furtados wunderbarer Spielfilmmixtur „O homem que copiava“ sehen kann

Dem Befehl „Kopieren!“ folgt das „Einfügen!“. Wunderbare Texte kommen im Computer zusammen, man muss dann nur noch das Lob des Alinearen singen. Der brasilianische Regisseur Jorge Furtado hat auf diese Weise einen wunderbaren Film gemacht – mit der Besonderheit, dass „O homem que copiava“, der Mann namens André, der kopiert, ohne Computer auskommt. Es genügt der Fotokopierapparat, den er im Laden bedient.

André liest, was das Gerät auswirft, gern auch ein Shakespeare-Sonett. Ihm erschließt sich die Welt, fragmentarisch zugerichtet. Damit kommt er schon ein Stück weiter, denn im Übrigen lebt er bei seiner Mutter, dem Pflegefall. Und in der Straße gegenüber, nachts, wenn das Licht brennt, weidet er sich an der schönen Unbekannten, die ins Bett geht. Die Abläufe wiederholen sich. Die kleinen Abweichungen sind es, die eine Geschichte entstehen lassen, die sich ihrerseits aus Partikeln zusammenfügt. Das ist subtil und mit Witz gemacht. Spannung baut sich auf. Wir machen uns dran, Szenen und Sequenzen zu markieren. Gleich am Anfang die Großaufnahme. Geldscheine werden verbrannt. Wie? Was? Wir sind in einer Stadt, wo die Leute kein Geld haben! Speichern wir das.

Der Film wird zum Schluss darauf zurückkommen, und es ist egal, ob das Dazwischen, also fast alles, eine lange Rückblende gewesen war. Denn ebenso gut baut er in eine realistisch anmutende Szene Spreng-Sätze ein, die, aber hallo, nicht sein können und auch nicht gewesen waren, aber wir haben’s gehört, wenn André Sílvia beim ersten Date fragt: „Wollen wir heiraten und fortgehen?“ Und sie: „Natürlich.“ Markiert, kopiert und zum glücklichen Schluss wieder eingefügt, wird das Fragment in der Tat das Paar verbinden. Zu wünschen wäre es, doch die Schlusseinstellung vom Zuckerhut in Rio ist zu schön, um wahr zu sein.

Und jetzt zu mir. Ich bitte um Nachsicht. Ich habe mich wieder einmal gesträubt, den Filmplot, auf den doch jeder wartet, wiederzugeben. Denn dieser Film lebt von narrativen Verstößen, und zwar prima. Er nimmt seine Gestalten nur bedingt ernst, aber er liebt sie. Er setzt sie kuriosen Brüchen und Sprüngen aus. Ein wenig Sozialreportage, viel Fiktion. Vergangenes kommt als Comic-Animation. Wertvolles wird ellenlang gelesen (Shakespeares Sonette). Der Kopierer spuckt Texte von Keith Haring und Andy Warhol aus. Die narrative Collage bringt Komödie, Tragödie, Liebesgeschichte, Action und Pseudo-„Tatort“-TV zusammen, durchsetzt mit einem eventuell ernst gemeinten moralischen Dauerdialog vor einer seeschifftauglichen Monsterhubbrücke in dramatischer Tätigkeit. Ach herrje, ich war doch schon so weit. Was also entsteht, wenn man die vielen Einfügungen zusammenleimt (to paste, engl.)? Das erste der beiden Loser-Paare kennen wir schon: André und Sílvia. Das zweite sind die üppige junge Marinês, Andrés Kollegin, und Cardoso, Andrés Kumpel. Klar? Die vier kommen gegen die Vätergeneration nicht an; Sílvia wird von ihrem Stiefvater missbraucht, der dazu Erpresser und sowieso ein Superarschloch ist. Was tun? Ein Überfall auf einen Geldtransporter bietet sich an. Oder einfacher noch: Banknoten kopieren, massenweise, in der Nachtschicht. Geht’s gut? Teilweise. Unser Liebespaar lässt das Arbeiterviertel von Porto Alegre hinter sich und posiert samt Mutter in einer schönen Kitschszene auf dem Zuckerhut. Das brasilianische Kino bringt’s. Witzig, klug, überraschend, berührend, frech und mutwillig. Ein Charakterfilm. Und ein Charakterdarsteller, den man lieben muss: Lázaro Ramos in der Rolle des 20-jährigen André. DIETRICH KUHLBRODT

„O homem que copiava“. Regie: Jorge Furtado. Mit Lázaro Ramos, Leandra Leal u. a., Brasilien 2003, 123 Min.