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Die Gewinne aus der MoMA-Ausstellung legt die Berliner Nationalgalerie in zeitgenössischer Kunst an. Und dann gibt es noch ihren Preis für Junge Kunst

Eben noch füllte der Himmel über den Hochhäusern das Bild, dann sind es Nahaufnahmen von Lippen, Zähnen, Augen und der heftig gerunzelten Stirn des Musikers, der in den Raum zwischen den Häusern seine Saxofontöne spült. Man spürt, nein, man sieht förmlich die Spannung seines Körpers, mit der er jeden Ton in dem Video „Long Sorrow“ von Anri Sala hervorbringt – und doch ist dieser Körper nicht genau zu verorten. Er schwebt irgendwie, vor der Fassade eines Wohnblocks, vor dem Fenster einer Wohnung, in der das Video beginnt. Die Musik aber, deren abgerissene Signale er anfangs wie in einen leeren Raum setzt, wird allmählich zu einem Dialog mit dem Ort, den Straßen und Bäumen unter ihm, der Skyline der Wohnblöcke.

Anri Sala, geboren in Albanien, ist Wahlberliner wie die anderen drei Künstler auch, die sich mit ihm im Hamburger Bahnhof in Berlin um den Preis der Nationalgalerie für Junge Kunst bewerben. Gedreht hat Sala sein Video in der Vorstadt, im Märkischen Viertel. Aber alle Klischees, die von diesem Viertel existieren, vom Scheitern der architektonischen und sozialen Utopien, bläst der Musiker Jemeel Moondoc in seiner improvisierten Musik beiseite.

Salas Arbeit ist der geradlinigste Beitrag in der Show um den Preis. Vor fünf Jahren wurde der Preis von den Freunden der Nationalgalerie gegründet, auf ähnliche Aufmerksamkeit hoffend, wie sie der britische Turnerpreis auf sich zieht. Zudem sollte der Anschluss gesucht werden zwischen den Sammlungen der Nationalgalerie und der aktuellen Kunstproduktion.

Denn je mehr die Stadt Berlin Künstler aus aller Welt anzog, die hier in Galerien ausstellten und anderswo auf Biennalen vertreten waren, umso mehr fiel das Defizit des Museum an zeitgenössischen Beitragen auf. Inzwischen hat der Verein der Freunde auch noch einen jährlichen Ankaufsetat eingerichtet mit Geldern aus den Gewinnen der MoMA-Ausstellung. So nähert man sich dem Ziel, auch wenn manche Schritte kleiner ausfallen als angekündigt.

Es ist ein wenig rührend, wie sich der Auslober dieses Jahr selbst Kränze für seinen Mut flicht, vier Positionen ausgewählt zu haben, die mit Performance, Video und Installation arbeiten. Als ob solche gewagten Medien nicht oft in dem Hamburger Bahnhof vertreten wären, in dem Sammlungen von Beuys und Fluxus genau die Wurzel eines solchen Kunstbegriffs markieren.

Alle vier Künstler – Anri Sala, Angela Bulloch, Monica Bonvicini und John Bock – sind auch schon Globalplayer; eine Voraussetzung, um auf die Shortlist für den Preis zu kommen. Ihren Arbeiten gemeinsam ist nicht zuletzt ein dramatischer Aufführungscharakter.

John Bock hat zur Eröffnung eine Performance inszeniert, die in einen Sprung von einer Brücke und einer Schifffahrt mit schönen Amazonen mündete. Angela Bullochs Arbeiten sind oft von einer Zwiesprache mit der Architektur und von pragmatischen Angeboten an den Nutzer bestimmt. Das alles ist in ihrem Raum „The disenchanted forest“ (Der entzauberte Wald) wiedererkennbar und doch versponnener in Szene gesetzt. Licht fegt über die runden Paneele an Boden und Decke, ein Fadengespinst versperrt den Raum, Musik und Geräusche markieren großes Theater.

Konkurrenz macht dieser abstrakten Bühne das Kettengerassel von Monica Bonvicini. Auch sie ist eine Spezialistin für Architektur und Gestaltung, die den Dingen oft einen versteckten Sinn abliest. Wie Architektur zum Beispiel mit gestaltet, was öffentlich und was intim ist, verkehrte sie in ihrem Pavillon „Don’t miss a sec“ 2004. Einwegspiegel bildeten die Wände einer Kabine im Straßenraum, innen war eine Toilette. Von außen sah man die Spiegelung der Umgebung, von innen aber drang der Blick wie durch Glas und stellte eine Situation albtraumhafter Entblößung her.

Einer ähnlicher Strategie, verborgene Zonen freizulegen, folgt jetzt ihre Installation aus Gerüsten und Ketten aus Stahl, an denen Schaukeln aus Leder hängen, geschlitzt und gelocht, und mit vielen Öffnungen an Stellen, die über den Gebrauch grübeln lassen. Ein SM-Spielplatz, der gnadenlos dem kalten weißen Licht ausgesetzt ist und mehr nach teurer Anschaffung denn nach Lust aussieht. Die Rauheit und die Spur des Alltäglichen aber, die Bonvicinis Arbeiten oft prägte, blieb auf der Strecke, wenn auch ihr schwarzer Witz noch zu spüren ist.

Um das Risiko zu unterstreichen, das sie mit diesen Nominierungen einzugehen glauben, hat der Verein sich noch etwas ausgedacht. Mit Hilfe eines Sponsors konnten leibhaftige Kunsterklärer angestellt werden, die auf Fragen der Besucher warten. Weil sie sich gut informiert haben und ihre Sätze nicht wie ein Audioguide abspulen, ist das einerseits angenehm, andererseits aber auch ein absurder Aufwand, der die Begegnung mit der Kunst schützend ummantelt und weich abfedert; als wäre sie der Rohstoff, der erst entsprechend zubereitet und serviert auch verträglich ist.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Bis 16. Oktober im Hamburger Bahnhof/Berlin, Preisverleihung am 26. September, Katalog 15 €