Das jeweils einzigartige Bild

Spannend zu beobachten: Wie viele Arbeiten nötig sind, um den Kontext zu schaffen, in dem sich einige Arbeiten dann als scharfsinnige, vollkommen makellose Ikonen der jüngsten Kunstgeschichte herausheben. Zum Katalog und zur großen Retrospektive des kanadischen Fotokünstlers Jeff Wall

von BRIGITTE WERNEBURG

Gerhard Steidl macht die besten Bildbände. Sein Interesse am Druckhandwerk und an der Buchherstellung ist echt. Vor kurzem erzählte F. C. Gundlach, der Katalog zur großen Martin-Munkácsi-Retrospektive in den Hamburger Deichtorhallen sei mit einem flexiblen Umschlag geplant und kalkuliert gewesen. Doch als Gerhard Steidl die ersten Kataloge auslieferte, fand er, der mächtige Band brauche einen festen Einband. Und innerhalb von 48 Stunden lieferte er die restlichen Kataloge tatsächlich in Leinen gebunden.

Ausgerechnet der kommentierte Katalog zur großen Jeff-Wall-Retrospektive im Baseler Schaulager aber enttäuscht bei Steidl. Natürlich ist er von bester Qualität, Farbabgleich, Papier, Druck, alles stimmt – nur die Bildgröße nicht. Die Abbildungen sind zu klein. Das klingt wie ein schlechter Witz, weil Jeff Walls Problem mit dem Fotoformat bekannt ist. Es war ja sein Wunsch, auch in der Fotografie zu einem Maßstab zu gelangen, in dem die Größe der Figur im Bild der des vor ihm stehenden Betrachters entsprach. Aus dieser Überlegung entstanden seine Diapositive im Großformat, die stets in einen Leuchtkasten eingepasst sind, den er der Werbung entliehen hatte. Damit gehören sie, wie der kanadische Künstler in einem seiner im Katalog enthaltenen Essays sagt, in die Reihe jener technologischen Bilder, die nur existieren, wenn der Strom eingeschaltet ist.

Dass der Schalter im Bildband gewissermaßen auf „Aus“ steht, bereitet interessanterweise keine Probleme. Der Schritt im Format aber ist im Buchdesign uneinholbar. Man muss Walls szenische Tableaus im Original gesehen haben, um sie in den Abbildungen des Katalogs würdigen zu können. Für ein genaues Studium der Arbeiten bietet dessen kritischer Apparat freilich alle nur denkbare Unterstützung. In chronologischer Folge werden sämtliche 120 Fotografien, die zwischen 1978 – dem Jahr des ersten Leuchtkastenbilds – und 2004 entstanden, mit ihrem verbindlichen Werktitel aufgeführt und dazu schwarzweiß, in Passbildgröße, abgedruckt. Es folgen das Entstehungsdatum, technische Angaben, Größe und Auflage der Arbeit, schließlich die Namen der Sammler und Museen, in deren Besitz sich die Arbeit befindet, die Ausstellungen, in denen es gezeigt wurde, und die Literatur, in der es Erwähnung findet. In oft ausführlichen Bemerkungen werden zu guter Letzt weiterführende technische Angaben gemacht, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen genannt und Ausschnitte aus Texten des Künstlers aufgeführt, die sich auf das jeweilige Werk beziehen.

Die inszenierten Fotografien, mit denen Jeff Wall – 1946 in Vancouver geboren, wo er noch heute lebt und arbeitet – Ende der 70er-Jahre bekannt wurde, schockierten durch ihren erzählerischen Duktus. Er passte nicht, zu einem Zeitpunkt, in dem gerade die konzeptuelle Fotografie Wertschätzung erfuhr, die gerne als Serie oder Abfolge das strukturell Gleiche in seinen individuellen Ausformungen präsentierte. Walls Fotografien dagegen standen als jeweils einzigartige, gültige Bildgeschichte wie ein Gemälde ganz für sich.

Das macht sie angreifbar. Nicht jede Idee trägt. Und erprobte Formeln und Manierismen fallen umso mehr auf, wenn stets ein perfekt arrangiertes Bild präsentiert wird, in dem kein Detail dem Zufall überlassen ist. Zwar sorgt Jeff Wall dafür, dass die eigentliche Handlung in seinen als „cinematografische Fotografie“ bezeichneten Arbeiten im Dunkel bleibt – welches „Agreement“ (1987) wird zwischen dem Mann im Fond des Chevrolet Impala und dem Langhaarigen getroffen, der am Auto lehnt? –, aber nicht immer hilft das Rätsel gegen die Gestelztheit mancher Einfälle.

Dennoch ist gerade dies spannend zu beobachten: Wie viele Arbeiten nötig sind, den Kontext schaffen, in dem sich einige Arbeiten dann als vollkommen makellose, scharfsinnige Werke herausheben, als Ikonen der jüngsten Kunstgeschichte, die fest in unserer Erinnerung verankert sind und unsere Fantasie noch immer beschäftigen: wie „Mimic“ (1982), das Bild einer so beiläufigen wie unfreundlichen Anmache auf der Straße, wie „Milk“ (1984), die Fotografie grandios verschütteter Milch in einer völlig undefinierbaren Situation, oder wie die Realisierung der Behausung des „Invisible Man“ (1999–2000) aus Ralph Ellisons gleichnamigem Roman, die einigen Mut verlangt haben muss.

Ausgerechnet bei den Arbeiten, die er der „dokumentarischen Fotografie“ zurechnet, scheint Wall nie ein Fehler zu unterlaufen. Denn zur deskriptiven Seite der Fotografie begann er sich erst in den letzten Jahren zu bekennen. Er rückt nun also die besondere Aura des Schauplatzes, die stets auch wesentliche Grundlage seiner cinematografischen Fotografien ist, unverfälscht ins Zentrum des Bilds. Paradoxerweise gerät ihm selbst das schiere Dokument zum Gemälde oder Filmstill. „Dawn“ (2001), eine Straßenecke in der Dämmerung, lässt einen jedenfalls sofort nach dem Zwischenfall im Bild suchen, nach einer Geschichte, die doch nur Licht, Architektur und Natur heißt. „Dawn“ bezwingt den Blick selbst im kleinen Format des Katalogs.

Bis 25. September, Basel, Schaulager; ab 21. Oktober bis 8. Januar 2006 in der Tate Modern, London; Jeff Wall, Catalogue Raisonné 1978–2004. Mit einem Essay von Jean-François Chevrier. Hrsg. von Theodora Vischer und Heidi Naef. Steidl Verlag Göttingen 2005, 492 Seiten mit 120 Farbtafeln, 80 €