„Merkel zeigt nicht, dass sie aus dem Osten ist“

Gregor Gysi wirft Angela Merkel vor, sie verberge ihre Herkunft aus der DDR wie einen Makel. Um nicht als Ostdeutsche erkannt zu werden, mache die Kanzlerkandidatin auch keine Politik für den Osten

INTERVIEWROBIN ALEXANDER
UND JENS KÖNIG

taz: Herr Gysi, Daniel Cohn-Bendit behauptet, dass mit Angela Merkel eine Frau ins Kanzleramt und mit Guido Westerwelle ein Homosexueller ins Außenministerium einziehen könnte, sei ein Verdienst von Rot-Grün. Ist es ein Verdienst der PDS, dass die künftige Kanzlerin aus dem Osten kommt?

Gregor Gysi: Cohn-Bendit hat Recht. Obwohl neben Rot-Grün sicherlich auch andere – etwa die taz – ihren Anteil daran haben, die so lange für eine Öffnung der Gesellschaft eingetreten sind, bis es sogar die FAZ erreicht hat. Merkels ostdeutsche Karriere in der CDU hat aber einen anderen Hintergrund: den Spendenskandal. Die Union brauchte damals eine Vorsitzende, bei der überhaupt niemand auf die Idee kam, sie könnte mit dem Skandal etwas zu tun haben. Und das ging nur bei einer Ostdeutschen.

Eine schöne Ironie der Geschichte: Nur bei einer Ostdeutschen konnte man sicher sein, dass es keine Akte gibt.

Ja. Eine Umkehrung des üblichen Generalverdachts gegen Ostdeutsche. Merkel musste an den Schiebereien in der CDU unschuldig sein, weil sie in der DDR gelebt hatte. Aber sie war ja nur als eine Ausweich- und Übergangslösung geplant – Koch und Wulff hielten sich bestimmt für geeigneter. Das weiß Merkel, und darin liegt auch ihr Problem: Sie ist misstrauisch und ständig in einer Habt-Acht-Stellung. Sie passt auf, das niemand zu nah an sie herankommt.

Ist das typisch ostdeutsch?

Nein. Im Gegenteil, Angela Merkel hat über Jahre versucht, das typisch Ostdeutsche an ihr nicht zu zeigen. Das halte ich für einen Fehler. Ich glaube, du genießt in Baden-Württemberg oder Bayern erst wirklich Respekt, wenn sie dich achten, wie du bist. Und nicht, wenn du so tust, als wärest du, wie du denkst, dass sie hoffen, dass du sein solltest.

Hat das eine Bedeutung für Merkels Politik?

Durchaus. Nehmen wir das Beispiel des Irakkrieges. Ich weiß nicht, ob Frau Merkel den Irakkrieg wirklich wollte oder nur dachte, sie müsse ihn wollen. Sie ging wohl davon aus, dass die Menschen in den alten Bundesländern die USA vornehmlich als Befreier ansehen. Merkel glaubte: Nur an der Seite der USA wäre sie wirklich konservativ. Wer so denkt, wird für sich selbst unzuverlässig, weil er taktisch herangeht. Er begibt sich in eine Verstellungssituation.

Das Taktische an Angela Merkel wird oft mit ihren Lebenserfahrungen in der DDR erklärt. Sehen Sie das auch so?

Um erfolgreich sein zu können, musste man in der DDR nicht mehr und nicht weniger opportunistisch sein als heute in der Bundesrepublik. Opportunismus in der DDR war allerdings verzeihlicher. Damals ging es um existenzielle Fragen. Heute geht es nur um Karriere. Seit 1989 genießen die meisten Ostdeutschen die Freiheit zu sagen, was sie denken. Ich genieße das auch – bis heute. Bei Frau Merkel bin ich mir da nicht immer sicher.

Empfinden Sie Angela Merkel überhaupt als Ostdeutsche?

Ja, aber klar.

Woran machen Sie das Ostdeutsche an ihr fest?

Das ist gar nicht leicht in Worte zu fassen. Ich glaube, es ist eine Form der Unsicherheit, die sich nach außen als Sicherheit darstellt.

Ist das der typisch ostdeutsche Minderwertigkeitskomplex?

Nicht bei allen.

Bei Ihnen natürlich nicht.

Nein, ich glaube, ich bin frei davon. Aber das allein würde mich bei Angela Merkel nicht stören. Was mich stört, ist die Unsicherheit: Wohin will Angela Merkel überhaupt? Konrad Adenauer wollte die Westintegration der BRD. Helmut Kohl wollte die deutsche Einheit und die europäische Integration. Nennen Sie mir die diesbezüglichen Ziele von Gerhard Schröder und Angela Merkel! Ich kenne sie nicht. Ich weiß nicht, wo Merkel hin will mit dem Land. Und das macht sie weniger berechenbar.

Erkennen Sie Ähnlichkeiten in Ihrer eigenen Prägung und der Angela Merkels? Sie kommen aus einer bürgerlich-kommunistischen Ausnahmefamilie, Sie waren ein privilegierter Außenseiter. Angela Merkel war als Tochter eines evangelischen Pfarrers auch eine Außenseiterin, wenn auch eine ganz andere als Sie.

Für eine Ostdeutsche benimmt sich Angela Merkel in der Tat atypisch. Die meisten ostdeutschen Abgeordneten im Bundestag ordnen sich eher ein und unter. Merkel nicht. Sie hat eine ganz andere Art, sich durchzusetzen. Das ist verwunderlich, denn in der DDR war sie ja nicht in der führenden Partei. Sie hat damit auch darauf verzichtet, ganz nach oben zu kommen. Vielleicht war ihre spätere Karriere ja auch Zufällen geschuldet. Als Generalsekretärin hat sie die Schwächen von Kohl und Schäuble gesehen und sich gesagt: Das kann ich auch und vielleicht sogar besser. Aber ihren scheinbaren Makel, aus dem Osten zu kommen, will sie dabei vergessen machen. Deshalb weigert sie sich auch, für den Osten Politik zu machen.

Sie weigert sich?

Ja, sie weigert sich beispielsweise, für die Angleichung des Arbeitslosengeldes II einzutreten, das im Osten immer noch 14 Euro niedriger als im Westen ist. Die Angleichung würde insgesamt 300 Millionen Euro kosten, wäre also im Bundeshaushalt verkraftbar. Aber Angela Merkel fürchtet sich wohl, erwischt zu werden, wie sie etwas für den Osten tut.

Hat dieses Land nicht dringendere Probleme als 14 Euro weniger beim Arbeitslosengeld im Osten?

Mit den 14 Euro drückt sich eine geringere Wertschätzung aus. Das spüren die Ostdeutschen.

Wer steht Ihnen kulturell näher: Oskar Lafontaine oder Angela Merkel?

Natürlich steht mir Lafontaine näher – politisch sowieso. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Ich verstehe mich mit Lafontaine besser, aber ich verstehe an Frau Merkel Dinge, die Oskar Lafontaine an ihr nur schwer verstehen wird. Wo sie unsicher und wo sie sicher ist. Wann sie lächelt und wann sie nicht lächelt. Ich kenne die Umstände, unter denen Merkel aufgewachsen ist. Und ich kenne auch diese zustimmende Distanz zum Staat. Sie ist nicht so weit gegangen, den Eintritt in die FDJ zu verweigern, aber hat doch Distanz gehalten. Immer beides. Das prägt.

Die PDS hat stets die mangelnde Repräsentanz von Ostdeutschen in Spitzenpositionen beklagt. Ist die deutsche Einheit vollendet, wenn mit Merkel eine Ostdeutsche regiert?

Nein. Die Vertretung der Ostdeutschen ist nur eine Facette der Einheit. In dieser Facette wären wir mit Angela Merkels Wahl wohl ein, wenn auch eher schädliches, Stück weiter. Die entscheidende Frage aber ist: Empfinden die Menschen in den alten und in den neuen Bundesländern sich gegenseitig als gleichwertig? Hier sind wir in diesem Wahlkampf wahrlich nicht vorangekommen.

Mit Merkel wird eine Ostdeutsche regieren. Die PDS will eine gesamtdeutsche Linkspartei werden. Ist die ostdeutsche Interessenvertretung endgültig überholt?

Nein, sie ist noch nötig, solange der Gesetzgeber zum Beispiel die 14 Euro Unterschied festlegt. Niemand kommt auf die Idee, in einem Dorf in Schleswig-Holstein ein niedrigeres Arbeitslosengeld auszuzahlen, weil es dort billiger ist als in Hamburg. Die Gesetze werden immer noch mit der alten DDR-Grenze im Kopf gemacht – dieses Denken muss überwunden werden. Meine Partei war nicht die Partei der Einheit. Das waren andere. Aber wir sind die Partei der Vereinigung.

Ist das Ihr Ernst?

Ja. Die Kernfrage der Vereinigung ist die Chancengleichheit. Wer in Vorpommern geboren wird, muss die gleichen Chancen haben, etwas zu werden wie der, der in Bayern geboren wird. Bei einigen Ostdeutschen steckt die Ungleichheit immer noch in den Köpfen. Ostdeutsche, die – wie Frau Merkel – Karriere gemacht haben, fragen sich selbst: Wieso habe ich mich als Ostdeutsche durchgesetzt?