Die unverstandenen Wähler

Die Schwäche der CDU liegt in dem Unvermögen dieser bürgerlichen Partei begründet, die Sorgen und Interessen ihrer neu erschlossenen, proletarischen Klientel zu verstehen

Ältere Wähler goutieren die alt-christdemokratisch geprägte Sicherheitsmentalität

Im Juni war die CDU noch hoffnungsfroh. Meinungsforscher taxierten die Union ganz nahe an der absoluten Mehrheit. Jürgen Rüttgers hatte soeben in Nordrhein-Westfalen, der alten SPD-Hochburg, triumphiert. Der Bundeskanzler hatte die Macht hingeworfen. Rot-Grün war erkennbar am Ende, die Republik befand sich in Wechselstimmung. Im Bürgertum begann bereits das Postengeschachere.

Doch in den ersten Augustwochen sah das schon alles etwas anders aus. Der riesige Vorsprung der Union war um rund sieben Prozentpunkte zusammengeschmolzen; die Hoffnung auf eine eigene absolute Mehrheit hatte getrogen, selbst ein schwarz-gelber Machtwechsel ist nun nicht mehr gewiss. Die Wahl am 18. September mag noch zur Zitterpartie werden. Nun kann man das Schwächeln der Union routiniert auf die Brutto-Netto-Unsicherheiten Merkels zurückführen, auch auf die derben Anti-Ost-Invektiven Stoibers oder, sehr beliebt, auf die telegenen Platzvorteile Schröders. So schätzen es mediale Kommentatoren und Publikum.

Doch die Probleme der CDU reichen erheblich tiefer. Entscheidend ist, dass die Union während der elementaren Krise der Sozialdemokratie neue Wählerschichten einsammeln konnte, mit denen sie in keinem Moment politisch und strategisch etwas anzufangen wusste. Mehr noch: die Union geriet in eine Scherenlage, die die Partei überforderte, ja: die sie nicht einmal konzeptionell zu diskutieren wagte. In ihrem Elektorat war die Union im Laufe der unpopulären sozialdemokratischen Agendapolitik deutschlandweit erstmals zur Mehrheitspartei der Arbeiterklasse mutiert. Die Partei des Bürgertums war in ihrer Wählerschaft mit einem Mal weit proletarischer, auch weit bildungsabständiger als die Sozialdemokratie. Das war die eine Seite.

Doch auf der anderen Seite war die Union in ihren Mitgliederkernen und Aktivistenkreisen, bei ihren Parlamentariern und Funktionären seit der Kohl- Ära bürgerlichen denn je. Denn die sozialkatholischen Lebenswelten und Netzwerke von früher hatten sich weitgehend aufgelöst; auch der einst in der protestantischen Provinz tief verwurzelte konservativ-deutschnationale Patronismus und Solidarprotektionismus war aus dem Binnenraum und Selbstverständnis der Union gänzlich verschwunden. So fanden die beiden neuen Seiten der CDU – die soziale Unterschichtung der Wählerschaft hier, die liberal-individualistische Verbürgerlichung der Parteikerne dort – zu keinem Zeitpunkt lebensweltlich, kulturell und schließlich politisch zusammen. Und so machte sich ein Teil des links liegen gelassenen Subproletariats wieder auf und davon, im Osten Deutschlands in Richtung Linkspartei.

Der alten christdemokratischen Volkspartei wäre das wohl nicht so einfach passiert. Der neubürgerlichen CDU aber ist mittlerweile das altkonservative Erbe des patriarchalischen „Kümmerns“ und „Sorgens“ verloren gegangen. Überall ist nun in den neuen bürgerlichen Eliten – und damit eben auch in der Union – einzig und allein von Eigenverantwortung, Individualität, Freiheit, Entstaatlichung und dergleichen mehr die Rede.

Indes: Ein erklecklicher Teil der Wählerschaft, gerade der Union, erwartet von den politisch Mächtigen seit ewigen Zeiten noch etwas anderes: nämlich Schutz, Sicherheit, berechenbare Lebensverhältnisse, Entlastung von den Zumutungen permanenter gesellschaftlicher Anstrengungen. Die großen christdemokratischen Kanzler, Adenauer und Kohl, besaßen stets ein sicheres Gespür dafür, haben daher die Sicherheits-, Schutz- und Erholungsbedürfnisse ihrer Klientel stets üppig bedient und dadurch à la longue eine spezifische christdemokratische Ruhementalität geschaffen, die jeden forschen Neuliberalismus auch künftig – auch bei einer Kanzlerin Merkel – denkbar sperrig im Wege liegen wird.

Vor allem ältere Wähler goutieren die altchristdemokratisch geprägte Sicherheits-, Entlastungs- und Berechenbarkeitsmentalität, insbesondere die Wählerinnen über 60. Und auf diese Gruppe kommt es bei Wahlen an; sie beeinflusst den Ausgang stärker als jede andere Kohorte im Land. Doch eben in diesem Segment hat die neuliberal transformierte Union bezeichnenderweise in den letzen Jahren am stärksten an Boden verloren. Über etliche Jahrzehnte waren die Frauen und die Älteren die verlässlichste politische Reservearmee für den strukturellen Vorsprung des christlichen Konservatismus in Deutschland.

Seit 1998 aber gilt das nicht mehr. Die Frauen stehen stärker im rot-grünen Lager als die Männer; die Älteren wählen weniger denn je eine der klassischen Parteien des Bürgertums. Alle Welt schaut zwar auf die jungen, urbanen, modernen Schichten. Doch die Wahl gewinnt allein, wer die Älteren, vor allem die älteren Frauen, auf seine Seite bringt. Das gelingt durchweg dem Typus, der sich auf den Marktplätzen als guter Zuhörer darstellt, der so etwas wie Empathie und „compassion“ ausstrahlt. Kühle Reformer und emotionslos rigide Neuerer hingegen haben – auch wenn sie weiblichen Geschlechts sein sollten – in der Gruppe der Älteren/Frauen einen denkbar schweren Stand.

Die Union geriet in eine Scherenlage, die sie überforderte, ja: die sie nicht einmal zu diskutieren wagte

Kümmern und Empathie also. Doch gehört das nicht so recht zum Vokabular und zum Image der gegenwärtigen Anführer des „bürgerlichen Lagers“ in Deutschland. Auch die ökonomischen und deutenden Eliten dieser Republik können damit nichts anfangen. Sie alle wollen, dass neuliberal „durchregiert“ wird. Aber eben deshalb schafft es das schwarz-gelbe Lager derzeit nicht, eine sichere Mehrheit der im Prinzip ja wechselbereiten Wähler hinter sich zu bringen. Deshalb steht ihr gegenwärtig ein nahezu gleichstarkes linkes Lager gegenüber, obwohl dieses politisch durch die Selbstaufgabe von Rot-Grün in der Regierung, durch die bittere Fehde zwischen SPD und Lafontaine-Partei eigentlich zutiefst kompromittiert sein müsste.

Und deshalb sendet Angela Merkel in diesen Tagen hektische Signale aus, dass auch die Union ein Herz für gewerkschaftliche Arbeitnehmeranliegen habe und mit den Liberalen des Herrn Westerwelle keinesfalls in einen Topf geworfen werden möchte. Doch ist der Verlust an glaubwürdiger Empathie und überzeugenden sozialen Patriarchalismus im deutschen Konservatismus schon zu weit fortgeschritten. Viel spricht deswegen dafür, dass dieser Empathieverlust die Mehrheitspartei des deutschen Bürgertums mangels Majorität für das bürgerliche Lager in die Regierungskooperation mit den Sozialdemokraten zwingen wird.

FRANZ WALTER