Das wird knapp!

Warum redet eigentlich niemand von Reformgewinnlern? Es gibt keine. Und was Rot-Grün begonnen hat, wird Schwarz-Gelb gefahrlos auf die Spitze treiben können. Eine Generation blickt in den Abgrund

VON REINHARD KRAUSE

Der Großvater war in einem Papiersack beerdigt worden. Das hatten wir als Kinder gehört, und so recht mochten wir es nicht glauben. „Das geht doch gar nicht“, beharrten wir. Und ob, hieß es. Und zwar so: Opa in Papiersack, Papiersack in Sarg, Sarg in Grab – und nach der Trauerfeier wurde das Oberteil vom Sarg einfach abgehoben und für die nächste Totenfeier in die Leichenhalle zurückgebracht. Tja, so sei das gewesen, im Hungerwinter 1947.

Nun war der Großvater, 1874 geboren, zwar ein Mann des 19. Jahrhunderts gewesen, aber seine Beisetzung war weder Tribut an Bräuche der Vergangenheit noch Folge blanker Nachkriegsnot. Die andere Familienerzählung über den Großvater ging nämlich so: Er, der Frisör gelernt und in Breslau einen kleinen Kellersalon geführt hatte, hatte nie etwas für die soziale Absicherung im Alter getan. Er hatte „nichts geklebt“, wie man das nannte. Deshalb gab es keine Rente. Deshalb gab es als letzte Heimstatt nur den Papiersack. Und deshalb auch lebte die Oma von der Sozialhilfe und musste mit so wenig Geld über die Runden kommen. Wie hatte der Großvater nur so nachlässig sein können, fragten wir uns, und ließen uns beruhigen mit Erzählungen über den Wandel der Zeiten und die Sozialgesetze und die Versicherungspflicht und dass so etwas ja gar nicht mehr vorkommen könne.

Ein paar Jahre später, 1977, erschien eine Schallplatte von Konstantin Wecker, „Genug ist nicht genug“ hieß sie etwas anmaßend. Darauf gab es ein Lied über einen angegrauten Revoluzzer, und eine Sprechpassage darin ging so: „I versteh di, des is ja koa Wunder, wenn man bedenkt, was alles wordn is aus de großen Kämpfer. Heit denkas ja scho mit 17 an ihr Rente.“ Diese Stelle löste stets Irritation aus: War es schlecht, an die Rente zu denken? Zeigte nicht Opas trauriges Ende, dass es ein Fehler war, nicht an die Rente zu denken? Oder hatte Wecker Leute im Blick wie den Stiefbruder? Der hatte bereits mit 14 verkündet, er freue sich schon auf das Jahr 2028, dann sei er 65 und müsse nicht mehr arbeiten gehen.

Irgendwie haben wir Wecker über die Jahre aus den Augen verloren – und die Sache mit der Rente auch. Bis plötzlich die ersten Freunde und Kollegen anfingen, von den erschütternden Briefen zu erzählen, die die BfA verschickte mit den Rentenprognosen. Da plötzlich fiel uns auf: Wir werden ziemlich arm sein! Und zwar alle, durch die Bank. Kaum jemand aus dem Freundeskreis, aus gemeinsamen Tagen an der Uni, dessen Rentenerwartung – kontinuierliche Einkünfte auf bisherigem Niveau vorausgesetzt – deutlich über dem Sozialhilfesatz plus Wohngeld liegt. Nach der von Gysi und Lafontaine propagierten Grundrente von 900 Euro könnten wir uns vermutlich die Finger lecken. Und was wird von unserer Mickerrente noch abgehen? Wie viel an Steuern, wie viel für die Krankenversicherung? Wir werden ein Haufen von Opa Krauses sein. Schnell an etwas anderes denken!

Seit Hartz IV allerdings fällt das Verdrängen schwer. Die vermeintlichen Gewissheiten unserer Eltern, der Aufbaugeneration, sind suspendiert. Früher sagten wir uns: „Ich kann arbeitslos werden, ich kann auch in die Arbeitslosenhilfe abrutschen, aber zum Sozialamt werde ich nie gehen.“ Dank ALG II wissen wir heute: Nichts ist unmöglich, nach unten betrachtet. Verarmung ist kein Exklusivphänomen mehr für so genannte bildungsferne Schichten oder Schulverweigerer. Selbst wer ein Notpolster für das Alter angelegt hat, wird dies im Falle lang anhaltender Arbeitslosigkeit abschmelzen müssen und im Alter womöglich nichts mehr zuzusetzen haben.

Die Horrorvision ist kein unrealistisches Szenario. Eine Erzählung aus dem Freundeskreis. J. ist 45 und tätig bei einem Privatsender. Neulich berichtete sie, wie ein Kollege sie bat, ihr bei der Sichtung von Bewerbungsunterlagen zu helfen. Zu besetzen war eine halbe Stelle, dürftig dotiert, zudem auf ein Jahr befristet. Weiß Gott kein Sprungbrett in eine Karriere. Und doch: Hunderte hatten sich beworben, J. half bei der Durchsicht und konnte dem Kollegen am Schluss nur noch zuraunen: „Unsere eigenen Stellen würden wir heute nie mehr bekommen!“ Kaum jemand unter den Bewerbern, der keinen Einserabschluss hatte, womöglich promoviert war, diverse Praktika im In- und Ausland absolviert hatte, mehrere Sprachen beherrschte und für die lausige Stelle hoffnungslos überqualifiziert war.

Für Menschen, die in die Abwärtsspirale geraten, wurde ein neues Wort geprägt, auch in dieser Zeitung wird es bisweilen benutzt: Reformverlierer. Das Wort klingt noch so, als handele sich um eine irgendwie umreißbare, bedrohte Problemgruppe. Doch jeder von uns – nun gut: fast jeder – kann zum „Reformverlierer“ werden. Aus der Diffusheit der Drohung entstehen Angst und Lähmung. Hartz IV ist das Gegenteil einer Beruhigungspille. Vermutlich wird dies die historische Bedeutung von sieben Jahren Rot-Grün sein: den Ausstieg aus den vermeintlichen Sicherheiten gewagt zu haben. Eine schwarz-gelbe Regierung hätte die „Reformen“ nie wagen können, sie wäre vom öffentlichen Proteststurm weggefegt worden. Die gefühlte soziale Kälte wäre größer gewesen bei demselben Maßnahmenkatalog. Was Rot-Grün begonnen hat, wird Schwarz-Gelb demnächst gefahrlos auf die Spitze treiben können.

Blicken wir in den Abgrund, der durch Hartz IV schärfer ausgeleuchtet wird, der aber schon längst da war, auch schon vor zwanzig Jahren – nur hatten wir damals den Eindruck, wir stünden etwas weiter vom Rand entfernt.

Wir sind eine in mehrerlei Hinsicht überraschend homogene Gruppe. Um einen kleinen gemeinsamen Nenner zu finden, könnte man uns taz-affin nennen, auch wenn nur ein Bruchteil von uns tatsächlich ein taz-Abo besitzt. Wir sind Akademiker in den Vierzigern kurz vor der Schwelle zur Unvermittelbarkeit. Wir studierten, meist Geisteswissenschaften, allen Hinweisen zum Trotz, dass es kaum Stellen geben würde. No future? So what! Wir sind die einzige Generation, die so gut wie keine Lehrer hervorgebracht hat – weil der Staat zehn Jahre lang keine einstellte.

Es war die Zeit, als Praktika noch als erster Schritt in den Beruf galten und nicht als Übergang von einem schlecht alimentierten Zustand in einen noch schlechteren. Wir spotteten über die Empfehlung, die uns in ihrer Fixierung auf eine präzise Berufsperspektive komplett weltfremd erschien. Wir studierten mit einem Hang zum Gewissenhaften, weniger mit dem zu Pragmatismus und Schnelligkeit (später schämten wir uns ein bisschen dafür). Befremden und Empörung löste deshalb die Erzählung einer Freundin aus, deren Mutter mitten im Prüfungsstress versucht hatte, sie mit der Frage zu beruhigen: „Warum bist du nur so nervös? Reg dich ab, hinterher wirst du doch sowieso Blusen verkaufen.“

Später merkten wir, dass diese Mutter so falsch nicht gelegen hatte. Gering war unter uns die Zahl derer, die nach dem Abschluss – meist durch Vitamin B – in Volontariaten unterkamen. Kurioserweise arbeitet von den solcherart Versorgten heute kaum noch einer in der Branche, in der er damals anfing. Von professioneller Befriedigung war von dieser Minderheit erstaunlich wenig zu hören. Die meisten von uns waren froh, wenn ihre studentischen Hilfsjobs noch eine Weile weiterliefen. Oder wir absolvierten doch noch ein Referendariat – mit der Aussicht, dadurch zumindest zwei Jahre versorgt zu sein. Wir schrieben uns in Promotionsstudiengänge ein, um noch eine Weile günstig krankenversichert zu sein. Wir arbeiteten halbtags in Schuhläden, wir kellnerten, waren Kabelträger beim Privatfernsehen oder gaben Computerkurse. Nötigenfalls waren wir auch bereit, als Scheinselbstständige zu arbeiten – das brachte ein paar Mark zusätzlich ein.

Wir mussten konstatierten: Wir waren das akademische Lumpenproletariat, ein Wort, das damals aufkam. Selbstironische Zeiten. Wir konnten mit diesem Befund leben, es würde schon irgendwann aufwärts gehen. Zudem hatten wir längst angefangen, uns unsere Inseln der Zufriedenheit zu schaffen, „Projekte“ meist fern des Broterwerbs. Mittlerweile waren die Neunzigerjahre angebrochen, und Douglas Coupland gab Existenzen wie uns einen Namen: „Generation X“ allerdings klang wie eine Kopfgeburt von Trendforschern, klang nach einer Mode, die gekommen war und auch wieder verschwinden würde. Das Schlagwort MacJob – traf es auf uns überhaupt zu? Waren unsere wechselnden Tätigkeiten nicht doch ein wenig würdevoller als die Frühschicht bei MacDonald’s?

Unsere Bafög-Schulden zahlten wir, ein wenig zähneknirschend, von unseren schmalen Einkünften ab, Monat für Monat 200 Mark. Wer vom Pech verfolgt war, hatte in den Jahren des Volldarlehens studiert und startete in die postakademische Lebensphase mit einem Schuldenberg von 30.000 Mark – und der Aussicht, erst jenseits der vierzig mit dem Abstottern aufhören zu können. Später wurde die rentenrelevante Ausfallzeit für ein abgeschlossenes Studium von zwei auf null Jahre reduziert. Begründung: Akademiker würden ja gut verdienen. Haha. Nennenswerte Proteste dagegen gab es nicht.

Irgendwie haben wir im Laufe der Jahre unsere Plätze gefunden, wobei uns eine relative Unabhängigkeit offenbar immer wichtiger war als das große Geld oder die steile Karriere. Wir hätten ja auch eine Banklehre machen können. Wir haben nicht viel gejammert, dass wir wenig auf dem Konto hatten, andererseits waren Klagen über inhaltliche Zumutungen im Beruf meist nur von denen zu hören, die in die höheren Ränge aufgestiegen waren. Über die Jahre sind unsere Leben ruhiger geworden, aus Gelegenheitsjobs wurden solidere Beschäftigungen, ergaben sich schließlich doch noch erfreuliche Perspektiven. Und doch hat sich in den vergangenen Jahren das Bewusstsein verstärkt, es könnte eines Tages vorbei sein mit der ungefähren Sicherheit.

Da ist zum Beispiel A., 47. Nach einer gesundheitsbedingten längeren Auszeit hieß es plötzlich, in ihrem alten Beruf in der Sozialarbeit gebe es inzwischen keine Zukunftschancen mehr für sie. Seit ein paar Jahren arbeitet sie nun als Aufsichtskraft in einem Museum – und hat vermutlich gerade noch einmal Glück gehabt: Ähnliche Stellen wurden seitdem mit Ein-Euro-Jobbern besetzt.

Vor allem, wer sich selbstständig gemacht hat, lebt meist ohne Netz und doppelten Boden – bei erhöhtem Risiko. Nehmen wir B., 42. Vor ein paar Jahren hat er ein Antiquitätengeschäft eröffnet, eine Erbschaft half beim Aufbau. Zunächst ließen sich die Geschäfte hoffnungsvoll an, dann kam der 11. September, die amerikanischen Kunden blieben aus. Der Euro kam und auch die deutschen Kunden kamen immer öfter nur zum Anschauen und Komplimente machen: „Was für ein schöner Laden.“ Dessen Miete allmählich die Rücklagen aufzehrte. Mehr als einer der Händler aus B.s Nachbarschaft verlegte sich in den vergangenen Jahren zusätzlich auf eBay, um die Ladenmiete noch aufbringen zu können. Ein Geschäft zu führen, um ein anderes nicht aufgeben zu müssen – zur Überbrückung einer Durststrecke mag das probat sein – nicht auf lange Sicht. B. hat das Geschäft nach ein paar Jahren schließen müssen, ohne Laden aber erzielt er für seine Ware kaum Preise oberhalb der Anschaffungskosten – das kleine Erbe steckt also in Ware, mit der derzeit kein adäquater Erlös zu erzielen ist. Was tun? Alles veräußern, ohne Rücksicht auf Verluste, oder hoffen, dass sich der Markt irgendwann aus der Agonie erhebt? Aber wovon inzwischen leben?

Die Ansprüche auf Arbeitslosengeld aus seiner letzten Festanstellung sind längst verjährt. Käme B. auf die Idee, nach Abbau seiner Restbestände aus Ladenzeiten Sozialhilfe zu beanspruchen, müsste er zunächst seine Möbel gegen neue austauschen, denn aufgrund eines staatlicherseits vermuteten Schlupflochs ist es Sozialhilfe-Empfängern nicht gestattet, in alten Möbeln zu leben.

B.s derzeit größte Sorge: die monatlichen Beiträge für die gesetzliche Krankenkasse. Knapp 280 Euro sind das, der Mindestbeitrag – bemessen nach einem für Selbstständige festgelegten monatlichen Durchschnittsgewinn (genannt Mindestbeitragsbemessungswert) von utopischen 1.800 Euro. Statt der gesetzlich festgelegten zirka 12 Prozent seines Einkommens zahlt B. derzeit zwischen 30 und 40 Prozent für die Krankenvorsorge. Angela Merkels Traum von der Kopfpauschale – für Selbstständige mit niedrigen Umsatzzahlen ist sie längst Realität.

Wohl dem, der eine sozialversicherungspflichtige Arbeit hat, und sei es nur als Zubrot. F., 45, Sängerin, arbeitet aus diesem Grund mittlerweile halbtags als Paketbotin. Von der Kunst allein könnte sie die inzwischen sehr hohen Beiträge für ihre private Krankenversicherung nicht mehr aufbringen. Eine befreundete alte Dame, weit im Rentenalter, kommentierte diesen Umstand jüngst folgendermaßen: „Zu dumm, dass wir so diesem Sicherheitsdenken aufsitzen.“ Was wohl eine Aufforderung sein sollte, die Beiträge nicht mehr zu zahlen und sich auf die eigene Gesundheit zu verlassen. Vor allem die Angst, sagte sie noch, mache doch krank. Unsicherheit, könnte man kontern, aber auch.

Etwa die Unsicherheit, ob wir unsere derzeitige Tätigkeit auch in Zukunft noch werden ausüben können. L., 40, Fotografin, hat in den vergangenen Jahren alles Geld, das sich irgendwie erübrigen ließ, in neues Equipment gesteckt; an der digitalen Technologie führte irgendwann kein Weg mehr vorbei. Seit einiger Zeit hat sie gravierende Rückenprobleme – und fragt sich, wie lange sie in ihrem Beruf noch wird tätig sein können. Eine Berufsunfähigkeitsversicherung hat sie nie abgeschlossen.

Besser geht es denjenigen, die Wohneigentum erworben haben und über die Jahre Eigenheimzulagen abschöpfen konnten. Nur ist aus dem weiteren Freundeskreis kaum jemand in die Lage gekommen, Eigentum zu erwerben. Auch Kinder haben wir kaum in die Welt gesetzt – kein Vergleich mit der Generation der heute 30-Jährigen, die (auch aus beruflicher Perspektivlosigkeit?) so viel Nachwuchs produziert, dass man in manchen Stadtteilen fast schon von einer Modeerscheinung sprechen möchte. Kinder, die zwar die Rente der Elterngeneration sichern sollen, für die es aber absehbar später auch keine Vollbeschäftigung geben wird.

Immerhin, einer aus dem Freundeskreis ist neulich Vater geworden, mit 44. Ein ungünstiger Zeitpunkt, wie das Leben halt so spielt. Denn gerade hatte M., der junge Vater, zu einem Karrierewechsel angesetzt – auf einen gut bezahlten, aber auch sehr arbeitsintensiven Managerposten. Zudem muss sich noch erweisen, ob der Chefsessel kein Schleudersitz ist. Aufgerieben zwischen der Arbeit und zwei Wohnsitzen, wird M. für das Kind so wenig Zeit haben wie zu keinem anderen Zeitpunkt in seinem Leben. Der schwache Trost für die beiden berufstätigen Eltern: Nach dem Ende des Mutterschaftsurlaubs wird, wenn alles gut läuft, genug Geld da sein, das Kind vernünftig betreuen lassen zu können.

Wie wird es weitergehen mit den finanzschwachen Akademikern? Lohnt es sich überhaupt, jenseits der 40 noch Rentenansprüche aufzubauen? Unter Mühen Geld zu sparen, damit man sich später sagen kann: Meine Sozialhilfe habe ich mir selbst erwirtschaftet? Oder sollte man sich in der Vagheit einrichten, auch mit 50 „noch net an sei Rente denka“ und darauf hoffen, dass die Sozialsysteme irgendwie schon noch funktionieren werden, wenn wir, die geburtenstarken Jahrgänge, das Rentenalter erreichen?

Aus Angela Merkels Kompetenzteam erschallt der Ruf, die Rente müsse auf ein kapitalgedecktes System umgestellt werden. Eine ausgezeichnete Idee – wenn man beabsichtigt, die Hemmschwelle, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, möglichst hoch zu legen. Denn natürlich wird jede und jeder die Notgroschen für das Alter möglichst lange schonen und nicht vor der Zeit anbrechen wollen. Solange die private Altersvorsorge nicht vor staatlichem Zugriff gesichert ist, wird die diffuse Zukunftsangst unseren Alltag prägen. Vor uns liegt auch die Rückkehr des guten alten Sparstrumpfs – der ist zwar renditelos, aber wirklich diskret.

Keine Frage, das Land hat sich geändert in den vergangenen Jahren, nehmen wir nur das Stichwort Liberalisierung der Märkte. Ob es sich um Strom handelt, das Telefon oder demnächst womöglich um die Rente: Ständig sollen wir uns neu entscheiden, wer uns die besten Konditionen, die meiste Rendite verspricht, und die Anbieter wechseln wie unsere Leibwäsche. Neulich erst durfte ein Börsenlobbyist in der stets von unerklärlicher Heiterkeit geprägten Sendung „Die Börse im Ersten“ verkünden, die Deutschen müssten noch lernen, dass Aktienpakete unbedingt Bestandteil der Altersvorsorge sein sollten.

Das Leben ist unübersichtlich geworden. Und laut. Trotz der teilweise frappierenden Leerstände in unseren Städten geht es dort zu wie auf dem Rummelplatz. Immer neue „Events“ sollen mögliche Kunden anlocken, Veranstaltungen mit verräterisch hilflosen Namen wie „Die lange Nacht des Shoppens“. Und wer kennt sie nicht, die abendlichen Anrufer vom „Direkt Marketing“, die man nur mit grober Unhöflichkeit loswird.

Noch so eine Kindheitserinnerung: An manchen alten Häusern fand man damals noch in die Jahre gekommene Emailschilder mit der Aufschrift „Betteln und Hausieren verboten“. Relikte einer Zeit sehr greifbarer sozialer Überlebenskämpfe.

Das Elend, es ist uns längst näher auf die Pelle gerückt als wir dachten. Irgendwie werden wir uns weiter durchschlagen – vermutlich weit über das heutige Rentenalter hinaus. Dies allerdings ist eine Vorstellung, die uns nun doch nicht schreckt. Eine große Umstellung wird es für uns nicht sein, auch kein Verlust an Lebensfreude. Und wenn das ein Trost sein sollte: Die Zahl derer, die ein ähnliches Leben führen wie wir, wird in den nächsten Jahren eher zu- als abnehmen.

Man darf gespannt sein, was in ein paar Jahren aus der heutigen Generation Praktikant geworden sein wird. Werden die jungen Absolventen sich ähnlich entwickeln wie wir, aus der Not kleine Tugenden machen, eigene Pläne entwickeln, Nischen ausbauen, auch auf die Gefahr hin, mehr ideellen als finanziellen Gewinn zu erwirtschaften? Welche Folgen wird es haben, dass der Markt auch für das Potenzial der nachgewachsenen (und – wir bekennen es – ursprünglich viel zielstrebigeren) Generation nicht in nötigem Maß Verwendung hat? Erhöht sich nur der Druck in Richtung Marktgesetze mit einem zugleich achselzuckend hingenommenen Bodensatz an ungenutztem „Humankapital“? Ohne Frage werden ganz neue, unverhoffte Formen des sozialen Miteinanders entstehen.

Ein letztes Beispiel aus dem Freundeskreis. B., der Antiquitätenhändler ohne Laden, erhielt kürzlich ein sehr schönes Angebot. Seine Schwester rief ihn an. Es sei ja nur ein Gedankenspiel, sagte sie, aber sie habe sich überlegt, ob sie und er nicht im Alter eine Art WG gründen sollten. Als Verwaltungsangestellte hat sie Aussicht auf eine gute Pension, befürchtet aber, aus gesundheitlichen Gründen im Alter Unterstützung zu brauchen. Jeder hätte also etwas davon. Ein bemerkenswerter Vorschlag, der keineswegs dadurch gemindert wird, dass die Schwester gerade einmal 37 ist.

REINHARD KRAUSE, geboren 1961, ist Redakteur des taz.mags