Auf Machtentzug

Schöne Momente mit (5): Heide Simonis (SPD). Im März wurde ihr das Amt als Ministerpräsidentin entzogen. Warum sie ihre Partei, Paul Kirchhof und der Wechsel trotzdem nicht kalt lassen

VON JAN FEDDERSEN

Der Tag ist wie aus dem Ei gepellt. Kiel sonnt sich, die Luft weht fein und mild und leicht, und der Park vor ihrem Haus prunkt ziemlich grün. Später wird sie sagen: „Es ist gut, dass ich das alles im Sommer durchmache, wo das Wetter schöner ist.“ Das – das ist der Verlust des Amts als Ministerpräsidentin.

Vier Wahlgänge hat es gebraucht, ehe sie erklärte, nicht mehr kandidieren zu wollen. Damals begann gerade der Frühling; nicht auszudenken, wenn das alles im November vorigen Jahres geschehen wäre – Kiel in den dunklen Monaten, das schlägt hässlich aufs Gemüt.

Heide Simonis räumt unumwunden ein: „Die erste Zeit war wie Hammer auf Kopp, aber jetzt geht’s mir gut.“ Sagt es und trinkt sacht einen Schluck Tee. Nein, sorgen muss man sich nicht. Klasse sieht sie aus. Trägt ein weißes Leinenensemble, ungebügelt, als sähe es so krosser aus, außerdem viel Schmuck – und zeigt auf dem Parkett ihrer Wohnung johannisbeerrote Zehennägel. Eine attraktive Frau. Die Haare, wie man sie kennt, etwas strubbelig. Ihr Gesicht offen, ausgeschlafen. Wach die Augen, angstlos ihre Sprache. „Typisch, unsere Heide“ würden jetzt all jene sagen, die sie verehrten, ihre Partei aber hauptsächlich ihretwegen wählten, „die Heide hat keine Angst“. Gerhard Schröder soll nach ihrer Abdankung aus dem fernen Berlin befunden haben, „die kommt mir nicht an den Kabinettstisch“, was auch als Kompliment gelesen werden kann. Anders als die abgehalfterten Ministerpräsidenten Eichel oder Klimmt sollte sie kein Asyl am Hofe der Rot-Grünen erhalten – als Missbilligung öffentlich geäußerter Dissidenz zu diesen und jenen Plänen der Bundesregierung. Heide Simonis hat jedenfalls blank erklärt, sich nun aus der Politik zurückzuziehen. Genug sei genug.

Als man um eine Verabredung bei ihr nachsuchte, hieß es, vor allem über Unicef dürfe gesprochen werden, aber nicht über Politik und wahlkämpfende Politiker. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen? Keine schlechte Idee, immerhin kam Simonis über ihr Interesse für Entwicklungspolitik zu den Sozialdemokraten („Gott sei Dank“): So sieht ihr Engagement nicht wie das Trostpflaster aus, das man gestürzten Politikern gern anheftet. Und doch beschäftigt sich Heide Simonis mit diesem 17. März 2005 sehr – und das wirkt sehr sympathisch, denn anderenfalls hätte es den Anschein, als sei ihr das Amt als bislang erste und einzige Ministerpräsidenten des Landes nur ein Job gewesen. „Ich warte noch auf den Tag, wo jemand sagt, ich selbst hätte mir die Stimme verweigert“, sagt sie. Und: „Es ändert sich gar nichts, wenn ich wüsst’, wer es war.“ Dann auch: „Wer in der Politik etwas erreichen will, muss davon ausgehen, dass er oder sie kämpfen muss. Da muss man manchmal auch hart sein. Da bleiben auch Leute am Wegesrand stehen.“ Wahrhaftiger ist das nicht zu haben. Nicht nur Heide Simonis hat bekennenderweise „ein Gedächtnis wie ein Elefant“ – auch andere offenbar.

Was ging ihr denn damals sonst durch den Kopf an diesem Tag? Sie nimmt einen Schluck Tee und weiß es genau: „Sie gehen davon aus, dass es gut gehen wird. Wird schon schief gehen, und dann geht es in der Tat schief.“ Eine einmalige Konstellation: eine einzige Stimme knallhart verweigert. Eine Kränkung? Und eine Geste der Rache? Aber Simonis sagt: „Der Schritt von ‚Dich krieg ich‘ zu ‚Ich hab dich‘, der kommt ja selten vor.“ Sie hat ihn ertragen müssen.

Ihr Mann Udo hat sie besonders beschützt in jener Zeit, mit aller Liebe. Sagen Freunde. Und sagt auch sie. Zunächst wollte sie das Parteibuch hinschmeißen, aber ihr Mann fand, es sei doch nicht die Partei gewesen, sondern einer oder eine aus der Fraktion. Desillusionierend war es trotzdem: „Man stellt fest, es ist eine normale Partei, wie jede andere auch.“ Jedenfalls: „Wäre ich ausgetreten, würde ich überlegen, wann ich wieder eintrete.“

Danach kam die Zeit der Entwöhnung von der alten Aufgabe – und der Eingewöhnung an die neue. Hätte sie aufhören sollen? Zu Hause sitzen, um sich ihrer Sammlung von Kannen zu widmen, den Hüten, den privaten Umständen? Dem Quilten etwa, was sie ganz besonders hübsch kann? Simonis’ Motor durfte nicht abgewürgt werden: „Die Vorstellung, ich säße den ganzen Tag hier in unserer Wohnung, das würde meinen Mann verrückt machen.“ Nun kann das Kinderhilfswerk auf sie zählen. Obzwar man andere Rücksichten nehmen muss, bleibe das Ziel das gleiche: „Man hat keine politische Macht, aber kann etwas bewegen.“ Das Denken bleibe verwandt: „Man achtet darauf, ob eine Regierung eines Landes, dem man helfen möchte, bereit ist, sich Mühe gibt, die angebotene Hilfe anzunehmen, ob sie gegen Korruption kämpfen, gegen dunkle Kanäle.“ So reist sie fast so oft wie einst, doch sie ist nicht mehr die Spitze eines Apparats: „Es gab Tage, wo ich bis zu zwölf Termine hatte. Jetzt kämpfe ich. Ich sage ja und vergesse die Verabredung oder belege etwas doppelt.“ Neulich hat sie sich ein Strafmandat für falsches Parken eingehandelt: Heide Simonis, ein political junkie, per Unicef auf Methadon.

Unvorstellbar, dass sie den Wahlkampf nicht wahrnimmt. Frau Simonis, man darf Sie ja nicht nach Politik fragen, aber ist es denn so leicht, nicht mehr alles mitzudenken, was man mitdenken musste, um im Geschäft zu bleiben? Fast fugenlos fällt sie ins Wort: „Es hat mir schon in den Fingern gezippelt, was zu Kirchhof zu sagen. Das ist ja so himmelschreiend.“ Das sagt sie beinahe nebenbei, nicht laut. Es scheint sie mächtig zu jucken: „Ich würde gerne losgehen und sagen, Leute, das ist doch Unsinn, aber man hält sich zurück.“ Automatisch denkt sie die Koordinaten in den politischen Arenen nicht mehr mit: „Ich gewöhne mir das ab. Ich bin normales Parteimitglied. Ich habe nicht mehr den Wunsch loszureiten und auf den Punkt zu zeigen, wo ich es viel besser kann als die anderen.“

So krass ausgelastet wie als Ministerpräsidentin ist sie natürlich nicht mehr. „Ich fing dann an, den Keller aufzuräumen. Auch ein Keller muss aufgeräumt sein. Die Kisten sind nach unserem Umzug da reingeschoben worden, nach dem Motto: machen wir später. Und jetzt ist später.“ Aber nichts scheint mehr so leicht von der Hand zu gehen: „Mit weniger Zeit werde ich schneller fertig als mit viel Zeit“ – was sich auf das Nähen von Patchworkdecken bezieht, aber alles in allem doch für jede Tätigkeit. Eine Hochleistungsmanagerin, die niedrigtourige Geschwindigkeit erst noch üben muss. Darf man etwas Schmeichelhaftes berichten? „Gern“, sagt sie. Im Berliner Willy-Brandt-Haus erinnert man sich gern an sie, überhaupt gibt es viele Menschen, die sie vermissen … Sie guckt fast strahlend: „Wenn die Leute das sagen, wozu sie ja nicht gezwungen sind, dann ist das wie Balsam.“

Lobt schließlich die Grünen („nicht wirtschaftsfeindlich“), Klaus Wowereit („mein Kollege, äh, Exkollege“) wie Kurt Beck und nimmt ihrem Nachfolger Peter-Harry Carstensen nichts übel. Er hatte die Chance – und sie genutzt. Aber „das Faszinierende an der großen Koalition“ in Kiel sei ja, dass „alles, was vorher nicht ging, auf einmal geht“.

Hat sie Pläne? „Ich möchte meine fünf Sinne behalten.“ Dank an ihren Mann, der exzellenten Tee und Kaffee bereitete wie auch Gebäck hinzustellte.

Auf die per E-Mail nachgeschobene Frage, ob sie wieder in die Politik gehen würde, falls … für eine große Koalition eine Vizekanzlerin gebraucht würde, denn unterhalb von Schröder sei ja niemand wie sie …, was ja viele Sozialdemokraten im Regierungsviertel so wenige Tage vor der Wahl murmeln, was auch andernorts in der SPD gewispert wird, kam zur Antwort: „Das Kapitel ‚Politik‘ ist abgeschlossen.“