Das Festival der vielen Wünsche

Der Mut der Jury und nicht zuletzt das ausgeprägte Gespür für den asiatischen Film hat der diesjährigen Biennale in Venedig ihren eigenen Charme bewahrt. Doch der Druck populistischer Programmvorgaben und der Größenwahn einer nationalistisch gesinnten Kulturpolitik war auch hier zu spüren

VON CRISTINA NORD

„This is so contemporary“, rufen die beiden Aufsichtskräfte, kaum betritt man den deutschen Pavillon in den Giardini. Die Frau und der Mann springen durch den Raum und umkreisen dabei den Betrachter, bis sie ebenso unerwartet verstummen, wie sie ihren Ruf ausgestoßen haben. Tino Seghals Beitrag zur Kunstbiennale begreift sich als zeitgenössisch im mehrfachen Sinne: als Aussagesatz, als Beitrag zu einer Ausstellung von Gegenwartskunst und in seiner Flüchtigkeit. So gegenwärtig ist dieser Satz, dass er, eben ausgesprochen, im nächsten Augenblick schon wieder verklungen ist – getilgt von der verstreichenden Zeit.

„Dies ist so zeitgenössisch“ – lässt sich Seghals Satz auf die diesjährige Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica übertragen? Die Antwort lautet eindeutig: nein. Die Gründe dafür sind mannigfaltig. Zunächst einmal fällt es dem Kino augenblicklich schwer, sich als eine der Gegenwart gewachsene Kunstform zu behaupten. Das Medium zersplittert. Mal dient es sich den Bilderwelten des Computers an, mal wird man Zeuge seiner Musealisierung, insofern das cineastische Erbe auf DVD und in den Werkstätten der Filmrestauratoren konserviert wird. Statt eines breiten Publikum vermag dies jedoch vornehmlich cinephile Connoisseure zu begeistern – genauso wie die Leistungen von Autorenfilmern aus Thailand, den Philippinen oder Argentinien, die in die hiesigen Verwertungs- und Vertriebskanäle nur selten – und wenn, dann mit Verspätung – eintreten.

Hinzu kommt, dass sich einiges an kreativem Potenzial entweder in Richtung Kunstkontext oder in Richtung Fernsehen verabschiedet hat, wo es sich in Serien und neuen Dokumentarformaten austobt. Während die bildende Kunst zwar streitbare, aber eben doch kenntliche Positionen zur Gegenwart bezieht – etwa zum Zustand der postkolonialen Welt, wie es 2002 die von Okwui Enwezor kuratierte Documenta unternahm –, da fällt dem Kino stets nur dasselbe Drama des weißen Mannes vor exotischer Kulisse ein. Die unrühmliche Aufgabe, dies vorzuführen, oblag bei der diesjährigen Mostra dem brasilianischen Regisseur Fernando Meirelles. Im Wettbewerb präsentierte er die Verfilmung eines Romans von John le Carré, „The Constant Gardener“. Gegen Ende des über weite Strecken in Afrika spielenden Films reiten sudanesische Milizen durch die Wüste von Darfur, überfallen ein Dorf, plündern, morden und brandschatzen. Dies alles dient Meirelles als Hintergrund für die Tragödie seines von Ralph Fiennes verkörperten Helden und als blutiges Mosaiksteinchen in seinem pittoresken Afrikabild. Für die Dramen der Gegenwart die exotischsten Bilder der Vergangenheit zu wählen kann degoutant sein.

Die großen Filmfestivals müssen so vielen Zwängen Genüge tun und sich auf so viele Kompromisse einlassen, dass eine klare, ästhetische wie konzeptuelle Handschrift ausbleibt – es sei denn, man wollte diese Handschrift im Heterogenen selber finden. Das Festival von Cannes hat es in diesem Jahr noch am ehesten vermocht, ein einheitliches, klar dem Autorenkino zugewandtes Profil zu gewinnen; weder der Berlinale noch der Mostra konnte Vergleichbares gelingen. Im Fall der Mostra hat das viele Gründe: Zunächst einmal wartete Marco Müller auch in diesem Jahr wieder mit einer recht großen Zahl von Filmen auf, die außer Konkurrenz liefen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass gerade die größeren US-amerikanischen Produktionen sich ungern in den Wettbewerb begeben. Das wiederum führt zu einem grotesken Aufblähen der „Fuori Concorso“-Sektion – zu einer willkürlich gefüllten Wundertüte jenseits des Wettbewerbs, in der Ron Howards „Cinderella Man“ neben Takashi Miikes „The Great Yokai War“, Tim Burtons und Mike Johnsons „The Corpse Bride“ neben Andrew Lau und Alan Maks „Initial-D“ figurierten. Anstatt zur Konturierung der einzelnen Programmschienen beizutragen, zog die Fülle der Filme Aufmerksamkeit ab, und eine Logik in der Programmierung suchte man vergebens.

Schwerer indes wiegt, dass die Infrastruktur auf dem Lido, der Insel zwischen Lagune und Adria, den Ansprüchen eines Großfestivals nicht standhält. Es gibt kein Gebäude, einen Filmmarkt einzurichten; und wenn nach einem Wolkenbruch der Raum mit den Pressefächern unter Wasser steht und in der darüber liegenden Sala Perla ein Kurzschluss zu einem Feueralarm führt, dann zeigt das, wie nötig ein modernes Gebäude wäre. Entsprechende Entwürfe wurden denn auch in einer kleinen Ausstellung präsentiert. Ob und wann gebaut wird und woher das Geld dafür kommt, bleibt freilich offen.

Außerdem erreichte Marco Müller und sein Team die nicht eben frohe Botschaft, dass in Rom im Oktober ein großes Filmfestival stattfinden soll. Dessen Budget beläuft sich auf mehrere Millionen Euro, das Programm lautet: Stars, Stars, Stars und ein Schwerpunkt auf dem italienische Filmschaffen. Es ist genau diese Formel – Stars & Nationalstolz –, deretwegen in den letzten zwölf Monaten verdiente Direktoren kleinerer Festivals aus dem Amt gejagt wurden – als Beispiel seien die Filmfestivals von Thessaloniki und Buenos Aires angeführt. Dahinter steht meist der Größenwahn einer Kulturpolitik, die von Patriotismus viel, von Ästhetik nichts versteht. Ob es in Rom gelingen wird, aus dem Stand internationale Prominenz und internationales Publikum anzulocken, darf denn auch angesichts der populistischen Programmvorgabe bezweifelt werden.

Nun verhält es sich leider nicht so, dass der Lido jene Insel der Seligen wäre, die vom Druck der italienischen Filmbranche und der Kulturpolitik befreit wäre. Im Gegenteil: Offenkundig ist das Auswahlteam dazu verpflichtet, eine gewisse Mindestzahl einheimischer Produktionen in den Wettbewerb aufzunehmen. Dessen Qualität leidet unter Filmen wie Roberto Faenzas „I giorni dell’abbandono“ („Tage der Verlassenheit“) oder Cristina Comencinis „La bestia nel cuore“ („Die Bestie im Herzen“). Denn auf der Höhe der Zeit sind diese Filme nicht, eher handelt es sich um TV-kompatible Werke, die der Intelligenz des Zuschauers misstrauen, indem sie jede Regung ihrer Protagonisten fünfmal erklären. Dass nun Giovanna Mezzogiorno, die Hauptdarstellerin in „La bestia nel cuore“, die Coppa Volpi für die beste Darstellerin bekommen hat, lässt sich als Tribut an die Ansprüche der Branche begreifen. Mezzogiorno gibt die Figur der in der Kindheit missbrauchten Frau mit trister Miene und nach innen gekehrtem Blick so einfallslos, dass der Preis wohl eher der Überlebensleistung der fiktiven Figur gebührt.

Flugs wurde denn auch ein Sonderpreis an Isabelle Huppert verliehen. Die Schauspielerin hat die Hauptrolle in Patrice Chéreaus Film „Gabrielle“ inne. Je weniger überzeugend dem französischen Regisseur die Inszenierung dieses aus einer Kurzgeschichte von Joseph Conrad gewonnenen Beziehungsdramas geriet, umso mehr Gelegenheit hatte Huppert, den Film mit ihrer Leistung zu überstrahlen.

Was die übrigen Preise angeht, so hat die Jury klare und mutige Entscheidungen getroffen: Der Goldene Löwe geht an Ang Lees Western-Melodram „Brokeback Mountain“, das mit seinen beiden Hauptfiguren, den schwulen Cowboys Ennis und Jack, einen zentralen Bestandteil der Americana queert. Den Silbernen Löwen erhält Philippe Garrels wunderbar diskrete und nostalgiefreie Meditation über das Jahr 1968, „Les amants réguliers“. Den Drehbuchpreis nehmen George Clooney und Grant Heslov für ihr Skript zu dem durch und durch soliden Politfilm „Good Night, and Good Luck“ entgegen; dessen Hauptdarsteller, David Strathairn, darf sich überdies über eine Coppa Volpi für den besten männlichen Darsteller freuen. Der Spezialpreis der Jury schließlich geht an Abel Ferrara für seinen Film „Mary“. Besonders die letzte Entscheidung stellt unter Beweis, dass die Juroren die Courage aufbringen, den Film als Kunstform ernst zu nehmen. Denn offenkundig sind sie, indem sie Ferraras Spielfilmessay über Religion auszeichnen, dazu bereit, Größe auch im Kontroversen, im Unausgegorenen, ja im Scheitern zu erkennen.

Die couragierten Jury-Entscheidungen unterstreichen eines mit Nachdruck: Wer immer das baldige Ableben der Mostra prophezeit, täuscht sich gewaltig. Selbst wenn der Wettbewerb in diesem Jahr nicht so viele herausragende Filme bereithielt wie im letzten Jahr, selbst wenn die übertriebenen Sicherheitsmaßnahmen nervten, so hatte die Wundertüte doch ihren Charme. Spätestens als am Freitagnachmittag der japanische Regisseur Hayao Miyazaki den Ehrenlöwen für sein Lebenswerk entgegennahm und die Standingovations einfach kein Ende finden wollten, spätestens da war klar, dass es auch heute ein Kino gibt, das populär und anspruchsvoll zugleich ist – und zudem, anders als das Format des Zeichentrickfilms suggerieren könnte, dem Eskapismus widersteht. Dass die Mostra – nicht erst seit Marco Müller sie leitet – ein so ausgeprägtes Gespür für asiatisches Filmschaffen hat, ist ihr unbestreitbares Verdienst und der Grund dafür, warum sie neben einigen Enttäuschungen Momente echten Kinoglücks bescherte.