Gourmets im Wahllokal

Kurz vor der Wahl haben die Parteien nur eine Gruppe im Visier: die Unentschlossenen. Aber wer gehört eigentlich dazu? Und warum? Gerade diesmal wird klar: Es sind emphatische Demokraten

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

„Der Mangel an Urteilskraft“, beschied der frühe Demokratietheoretiker Immanuel Kant in seiner bekannt ostdeutsch-kategorischen Art, „ist eigentlich das, was wir Dummheit nennen.“ Wahlen sind die großen Urteilsmaschinen der Demokratie, und derjenige, der sich hier seines Urteils nicht sicher ist, wäre demzufolge der Dumme. Zum Bild des Demokraten gehört, ob wir es uns eingestehen oder nicht, die Entschlossenheit: Lange nachdenken und dann entschieden handeln – das ist die ideale Imago des verantwortungsethisch handelnden Bürgers. Nicht nur, aber gerade auch beim Wahlakt, der unbestrittenen Mona Lisa in der demokratischen Wandel- und Bilderhalle des Schönen, Guten, Wahren.

Wer von seinem Wahlrecht nicht Gebrauch macht, gilt im demokratischen Wertesystem als Nichtsnutz: Er nutzt nicht, was ihm zusteht. Er ist, wieder Kant, ein „Unaufgeklärter“, weil er von seinem Verstand nicht öffentlichen Gebrauch macht. Aus den Sonntagsreden der Politiker schallt uns solches dieser Tage allerorten entgegen. Tatsächlich tendieren wir dazu, Wahl und Urteil gleichzusetzen, so, als habe der, der sich der Wahl entzieht, kein Urteil – zumindest aber keine Verantwortung. Dem notorischen Nichtwähler steht der prinzipienfeste Parteisoldat und Überzeugungstäter gegenüber: Er kann sich auf feste Grundsätze stützen, kennt das Parteiprogramm, liebt seine Kandidaten, und selbst, wenn er es nicht tut, er kennt seine „Pflicht“.

Zwischen diesen gesinnungsethischen Extremen bewegt sich die Schar demokratischer Okkasionalisten: die Wechsel-, Zufalls- und Stimmungswähler. Die von den Meinungsforschern gefürchteten und den Politikern inständig umworbenen Vertreter des Wahlvolks, die letztlich jede Wahl entscheiden: die Unentschiedenen. Dabei geht es, gerade bei dieser Wahl, beileibe nicht nur um jene, die aus politischer Unbildung, Überdruss oder schlichtem Desinteresse nicht wissen, was sie wollen, oder denen es egal ist und ihr Kreuz nach dem System „Falke“ (den Bleistift bei geschlossenen Augen in der Luft kreisen lassen und dann zustoßen) auf den Wahlzettel setzen. Es geht um die, deren Urteil nicht, wie Schillers Glocke im Rohguss, festgemauert in der Erden ist, sondern von einer Volatilität, die Gründe hat. Wer sind sie, die Unentschiedenen?

Es sind in erster Linie diejenigen, die das politische Geschehen aufmerksamer verfolgen als das Gros des Wahlvolks. Sie sind skrupulös, schauen genau hin und hören auf die Nuancen in der Liebeswerbung der Politiker. Sie sind mit der geistigen Luxusware des Qualitätsvergleichs versehen – oder geschlagen: sie sind im Wortsinn wählerisch. Wie Gourmets lesen sie sorgsam die Speisekarte, lauschen der mündlichen Tagesempfehlung und ziehen notfalls den Sommelier zu Rate, bevor sie sich festlegen: Passt der Rote wirklich zu dem leichten Soufflé? Und sie tun dies umso aufmerksamer, je mehr es um die kleinen Unterschiede geht. Die Wahl in einer Frittenbude fällt allemal leichter als im Feinschmeckertempel. Nicht unbedingt, weil die Auswahl größer ist, sondern wegen der feinen Qualitätsunterschiede.

Der Wahlkampf 2005 legt es politischen Gourmets nahe, zögerlich und unentschieden zu sein. Wer zum Beispiel zwischen drei Arten des Neoliberalismus – „blutig“ (FDP), „medium“ (CDU) und „durchgebraten“ (SPD) – sowie zwei Grundstoffen des Populismus – der von Fischer Fischer und von „Schlachter“ Lafontaine (E. Stoiber) gelieferten Ware – zu wählen hat, hat auch gute Gründe für Unentschlossenheit. Er würde nur allzu gerne aus dem „nicht Fisch, nicht Fleisch“ herauskommen, wenn man seinen Geschmacksnerven nur spürbar den Unterschied demonstrieren könnte.

Der Unentschiedene ist im Grunde ein emphatischer Demokrat. Und ein verzweifelter. Bis zur letzten Minute hofft er „auf ein Zeichen“: auf irgendetwas, das aus dem Einheitsbrei heraussticht. Das ihm einen klaren Geschmack gibt und das Gefühl eines langen Abgangs. Er macht sich die Wahl nicht leicht, sondern ist darum bemüht, sie tatsächlich als politisches Urteil zu verstehen. Der Unentschiedene ist der Demokrat, der sich nicht dumm machen lässt. Und am Ende, verzweifelt und illuminiert, möglicherweise zu jenem urdemokratischen Prinzip zurückfindet, das im alten Athen angewendet wurde, wenn die Sache mit Argumenten nicht mehr zu klären war. Dann nämlich wurde das Los geworfen. Genau das wird nächsten Sonntag lautlos in vielen Wahlkabinen geschehen.