Seit die Wunder abhanden kamen

Lukas Bärfuss ist der Dramatiker des Jahres. Seine Stücke berühren Themen wie Religion, Behindertensex und Sterbehilfe. Mitleidsbonus, Sozialkitsch oder einen pädagogischen Duktus mutet er seinen starken Charakteren aber lieber nicht zu

VON SIMONE KAEMPF

Das Überhastete ist dieser Stimme fremd. Lukas Bärfuss hat sich Zeit genommen, als er sein Stück „Der Bus“ schrieb. Er wollte es nur noch einmal überarbeiten – und dann musste die Uraufführung in Hamburg um ein Jahr verschoben werden. Umso sicherer traf Bärfuss schließlich einen Ton, der Publikum, Theatermacher und Kritiker gleichermaßen in den Bann zog, und das in einem Stück, in dem Stoßgebete genauso wie das Vaterunser gesprochen werden. Im Juni erhielt der 34-jährige Autor auf den Mülheimer Theatertagen bereits sowohl den Dramatikerpreis der Jury als auch das Zuschauervotum. Jetzt wurde er in der Kritikerumfrage von Theater heute am häufigsten als wichtigster Dramatiker des Jahres genannt.

Fügt man das Stück zu seinen beiden letzten, so lässt sich fast, aber auch nur fast, behaupten, dass sich wieder ein junger Dramatiker den großen ethischen Themen und tabubesetzten Fragen widmet: Behindertensexualität, Sterbehilfe und jetzt der christliche Glaube. Doch schon der Titel „Der Bus“ verrät, dass mehr die Straße als der Himmel in Sichtweite liegt. Und ein Mitleidsbonus, Sozialkitsch oder ein pädagogischer Duktus sind so ziemlich das Letzte, was Bärfuss seinen Figuren zumutet.

„Mich interessieren die Situationen, wenn die Ideen der Menschen nicht mehr mit der Wirklichkeit zusammengehen. Entweder bildet man die Wirklichkeit um oder man ändert seine Ideen, was nicht immer möglich ist. Also passt man die Wirklichkeit an, und das heißt in vielen Fällen – man passt die anderen Menschen an. Bevor man sich selbst ändert, versucht man die anderen zu ändern. Und das sehe ich in phänomenologischer Betrachtungsweise.“ So entstehen auf glaubhafte Weise Figuren wie der Sterbehelfer in „Alices Reise in die Schweiz“. Einer, der Umkrempelungsversuche nicht lassen kann, bevor er seine Patientin in den Tod führt.

Die junge Gläubige Erika „mit dem Zeug zur Heiligen“ erleben wir in „Der Bus“ auf der Pilgerfahrt zur schwarzen Madonna von Tschenstochau. Ansonsten ist sie vom Religionsverdacht befreit. Lukas Bärfuss hat sie der christlichen Mythologie entführt. Aber nicht nur der Mythologie, sondern auch allen anderen Erlösungsfantasien, Heilserwartungen und eindeutigen Antworten auf die Frage, wie eine Heilige, von mittelalterlichen Schichten befreit, heute aussehen könnte. So ist ihr die Wundertat abhanden gekommen wie die Aura der Unschuld, in die sie sich sonst wie in ein blaues Gewand hüllt. Es könnte, erfährt man beiläufig, da mal was mit Drogen gewesen sein.

Ist sie jetzt zumindest bekehrt? Ja, aber Notlügen sind erlaubt, und das Stück startet gleich mit einer Tatsache, die auch pure Behauptung sein könnte. Erika ist auf ihrem Pilgerweg in den falschen Bus gestiegen. So kommt das Stück zu dem simplen wie schönen ersten Satz: „Dann fährt dieser Bus überhaupt nicht nach Tschenstochau.“ Aus dieser Ausgangssituation entwickelt Bärfuss sein Spiel Satz für Satz aus der jeweiligen Reaktion des Gegenübers: der ungläubige Busfahrer, der Umweltaktivist, die Kur-Reisegruppe. Das Spannungspotenzial dieser Antipoden reizt der Dramatiker in bester affirmativer Absicht aus. Eine Aneinanderreihung von Kippmomenten, in der die Strategien, die Menschen entwickeln, zum eigentlichen Thema werden.

Bärfuss wurde 1971 im Kanton Bern geboren. Er lebt heute in Zürich, aber an der Aufregung des Stadtlebens gehen seine Figuren vorbei, auch wenn die Dialoge von dort ihren harten Schliff haben. Im Vergleich zu anderen Gegenwartsautoren bleibt er dem klassischen Aufbau des Dramas treu, erzählt linear, mit wohl dosierter Verknappung. Vor fünf Jahren beschrieb er für die freie Gruppe 400asa die 214 Einstellungen des „Medäa“-Films von Lars von Trier detailgetreu in einem Theatertext. Als Erbe dieser Zeit enden seine Stücke mit den Worten „Fin de la Bobine“, dem Aufruf für den Kinovorführer, die neue Filmrolle einzulegen. Gesprengte Formen muss niemand fürchten.

Eine Anweisung richtet Bärfuss heute nur noch an sich selbst: beharrlich weiterschreiben. Sie ist das Symbol des ehrlichen Arbeitsethos eines Autodidakten, der 1997 nach der Buchhändlerlehre beschloss, fortan Schriftsteller zu sein.

Die Suche nach exemplarischen Erfahrungen, nach den prägenden Bildern der eigenen Generation beginnt bei ihm nicht beim Klassentreffen, gemeinsam erlebten Filmen oder im Clubleben. Viel eher gehören die Alten zum Beispiel dazu, denen die 60er-Jahre noch in den Knochen stecken. Mit Bedacht heißt das Stück, mit dem Bärfuss bereits 2003 zum Nachwuchsdramatiker gewählt wurde, „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“. Die liberale Mutter gesteht ihrer geistig behinderten Tochter zwar Sex zu, doch als Dora gefickt werden will, bis es wehtut, offenbart sich die repressive Seite der Toleranz. Bei einem andersartigen Menschen muss die Freiheit Grenzen haben. Dass die Mutter ähnliche sexuellen Fantasien auslebt, bleibt ungelöst im Raum stehen. Neu daran ist, dass Bärfuss solche Generationenkonflikte mit ideologiebehafteten Diskursen kreuzt und im Nahbereich menschlicher Beziehungen verhandelt, dort, wo sie für das Theater konkreter erfahrbar werden. So bleibt „Der Bus“ eines der interessanten Stücke der neuen Saison, in der es an knapp einem Dutzend Bühnen inszeniert wird.