Die Verhältnisse sprechen wieder

Lange war die Popmusik in Deutschland politisch nicht mehr so interessant wie heute: Im Infantilitätspop artikuliert eine junge Mittelschicht ihre Sehnsucht nach einem beschützten Leben jenseits der Unbill gesellschaftlicher Konflikte. Im aggressiven HipHop boxt sich eine urbane Unterschicht durch eine als kalt empfundene Welt. Und die Linke sorgt sich um die Nation

VON TOBIAS RAPP

Richtig vorstellen kann man es sich noch nicht: Die Organisatoren haben sich vorbehalten, die Sprecher „aufgrund der politischen Lage“ erst „kurzfristig“ bekannt zu geben. Den Titel gibt es allerdings schon. „Pop & Politik: Sieht Pop jetzt schwarz?“ wird eine der Diskussionsrunden heißen, die sich auf dem Kongress am Rande der Popkomm dem alten Popdiskurs-Evergreen widmen wird: Wie politisch ist eigentlich die Popmusik? Wer hat was zu vermelden? Ist Popmusik eigentlich noch links oder schon nicht mehr? Findet Angela Merkel die richtige Beatles-Platte gut? Was macht die Neue Mitte?

Einer hat schon mal vorgelegt. In einem ziemlich wahnwitzigen Überschlag hat Ulf Poschardt, ehemaliger Chefredakteur des Magazins der Süddeutschen Zeitung, Exalphatier der Welt am Sonntag und kommender Chef der deutschen Vanity Fair, vergangene Woche in der Zeit seine Wahlempfehlung abgegeben. „Versteht man Pop und seine Sehnsucht nach ungebremsten Freiheitsdrang essenzialistisch (und nicht phänomenologisch), dann gibt es für seine Anhänger nur eine Wahlempfehlung: die FDP“, schrieb Poschardt da (und rief als Zeugen ausgerechnet Diedrich Diederichsen, den Blumfeld-Sänger Jochen Diestelmeier und die kanadische Gender-Pop-Sex-Rock-Performerin Peaches auf, darauf muss man auch erst mal kommen, so ganz essenzialistisch).

So sehr Poschardts Wir-Popper-hatten-doch-Recht-Argument einem Gefühl ewigen intellektuellen Beweisnotstands verpflichtet ist und hauptsächlich von dem Bedürfnis lebt, nun endlich, endlich aus dem großen, großen Schatten heraustreten zu wollen, in den er sich nach wie vor von der Poplinken gestellt zu glauben scheint (und an die Seite der zukünftigen Sieger zieht es ihn natürlich auch, wobei die sich aufgrund der „aktuellen politischen Lage“ auch rasch als Verlierer herausstellen können) – in seinem Willen, dem leistungsbereiten, popsozialisierten deutschen Jungbürger die Illusionen auszutreiben, übersieht er aber vor allem eines: Die Grenze im Pop verläuft nicht zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb, sondern zwischen oben und unten. Das große popkulturelle Ereignis der letzten zwölf Monate war der Eintritt der Unterschicht in ein kulturelles Feld, dessen Hegemonie die Mittelschicht fest in der Hand zu haben glaubte.

Nun ist es zwar falsch, im Sinne einer Abbildungslogik jedes Bild, das die Rapper der einschlägigen Berliner HipHop-Labels Aggro oder Royal Bunker von sich, ihresgleichen und ihrer Umwelt zeichnen, für bare Münze zu nehmen. Wie jedes künstlerische Artefakt sind diese Stücke genauso ästhetische Verarbeitungen von realen Erfahrungen wie Realitätwerdung von ästhetischen Erfahrungen. Da wird sich eine Welt sowohl aus dem Konsum von HipHop-Videos, Comiclektüren, Action- und Pornofilmen zusammengezimmert, wie ihr ein Gefühl sozialer Ausweglosigkeit zu Grunde liegt. Hier drückt sich nichts aus, hier wird sich artikuliert. Doch genauso falsch wäre es, zu übersehen, dass ein Land, dessen Eliten sich partei- und lagerübergreifend damit abgefunden zu haben scheinen, dass die gesellschaftlichen Integrationskräfte nicht mehr ausreichen, einer breiten urbanen Unterschicht Aufstiegsmöglichkeiten zu eröffnen, irgendwann mit dieser Unterschicht leben muss. Irgendwann ist sie eben da. Und will gehört werden. Nicht als Objekt sozialarbeiterischer Fürsorge – es ist kein Zufall, dass „Opfer“ ihr Lieblingsschimpfwort ist –, sondern als Subjekt.

Und auch wenn bereits abzusehen ist, dass einige der erfolgreichsten Protagonisten des Berliner Krawall-HipHop sich gerade in eine Sackgasse bewegen – wer sich auf dem Street-Credibility-Ticket in die Bravo begibt, kommt darin um, realness ist eine Währung, die schnell an Wert verliert –, der Sound dürfte so schnell nicht verschwinden. Denn auch wenn Sido die Möglichkeit bereits andeutet: Der große Erzähler all dieser Superheldengeschichten von Glanz und Elend auf den kalten deutschen Problemviertelstraßen ist noch nicht aufgetaucht. Bis er kommt, ist es jedoch nur noch eine Frage der Zeit. Und seine Geschichten werden weder schön sein noch wahr. Aber gut gemacht.

Dieser zumindest ästhetischen upward mobility hat der deutsche Mittelschichtspop vergleichsweise wenig an die Seite zu stellen. Was dann aber auch wieder schön, weil sprechend ist. Wohin man blickt: Bands, die sich in den Erinnerungsschutzraum einer behüteten Kindheit flüchten. Seien es Wir sind Helden, die sich für das Cover ihres aktuellen Albums in eine „Tim und Struppi“-Welt hineinzeichnen ließen. Seien es Kettcar, die sich nach einem Kinderauto benannt, oder Tomte, die sich ihren Bandnamen bei Astrid Lindgren abgeholt haben. Sei es Nena, die „Willst du mit mir gehen?“ fragt, oder Ich & Ich, die neue Band von Annette Humpe, auf deren Album sich ein Stück mit dem Kinderspieltitel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ findet.

Wirklich bedroht vom gesellschaftlichen Abstieg ist hier niemand, genuine Angst davor sucht man ebenfalls vergeblich. Es regiert ein Gefühl diffusen Unbehagens, das sediert werden möchte. Der gelungenen Inszenierung pubertärer Allmachtsfantasien als sozialdarwinistisches Ellbogendrama, die die Aggrorapper Platte für Platte neuauflegen, begegnet der neue deutsche Infantilitätspop durch gesteigerte Harmlosigkeit und Kuschelbedürfnis. Politisch gesprochen geht ihm vollständig das Verständnis gesellschaftlicher Antagonismen ab – ästhetisch übersetzt sich das in die Unfähigkeit, die kleinsten Widersprüche aushalten zu können. Was wiederum gut passt zu einem Land, dessen Wertekanon grundsozialdemokratisch ist und das sich aus Unzufriedenheit mit deren real existierenden Vertretern gerade dazu aufmacht, die Gegenseite mit einem noch viel weniger sozialdemokratischen Programm zu wählen.

Wo in Gottes Namen ist denn in all diesem Durcheinander die Poplinke?, ist man nun versucht zu fragen. Gibt es zwischen freudiger Aneignung des neoliberalen Kampfes Mann-gegen-Mann und der behüteten Sehnsucht nach der heilen Familienidylle keine Ansätze aufgeklärteren diskursiven Agierens?

Sie hat sich gut versteckt. „I Can’t Relax In Deutschland“ nennt sich ein gerade erschienenes Büchlein mit beigelegter CD, das zwar den großen Angriff auf die deutschen Verhältnisse verspricht, aber wahrscheinlich genau deshalb fürchterlich in die Leere geht. Anders als Poschardt haben sich die Autoren zwar von den Vorgaben der nun tatsächlich schon seit ein paar Tage länger aufgelösten Kölner Zentralkomitees zur Festlegung einzigen wahren und richtigen Linie getrennt.

Doch aus der Art wie hier unter Zuhilfenahme von allem, was gut und teuer ist, in deutschen Geistesgeschichte noch einmal begründet wird, warum eine Band wie Mia wirklich nicht gut ist (und die Radioquotendebatte, Heinz Rudolf Kunze, der Kosovokrieg, Heppners „Die Flut“ und schwarz-rot-gelbe BHs auch nicht), spricht etwas ganz anderes. Die Hilflosigkeit, nach dem Zusammenbruch des pragmatisch-fragilen Neunzigerjahre-Bündnisses von Pop, aktivistischer Linker und neomarxistischer Theorie kein ähnlich auf der Höhe der politischen Situation agierendes Projekt formulieren zu können.