Unabhängig, weiblich, wählbar

Im künftigen afghanischen Parlament sind 68 Sitze für Frauen reserviert. Ein mutiger Schritt der Kandidatinnen – denn sie riskieren ihr Leben

Der Kalte Krieg ist für Sourja endgültig vorbei. Heute verteidigt sie die Anwesenheit derUS-Truppen in Afghanistan

AUS KABUL BERNARD IMHASLY

Ist das Pech, dass die Wahlkommission ihr als Wahlsymbol zwei Fußbälle zuteile? „Überhaupt nicht“, antwortete Gulallai Habib. „Afghanen lieben Fußball. Und wenn ich mit den Leuten rede, sage ich ihnen, dass ich mit diesen Bällen zwei Tore schießen werde, wenn sie mich ins Parlament wählen: Eins gegen die Taliban und die Dschihadis und eins gegen die Kriegsherren.“

Habib ist Oberstufenlehrerin in Kabul. Die kleine energische Frau um die fünfzig wohnt in einer Wohnung im Mikrorayon-Viertel, einer Plattenbausiedlung aus der Zeit, als die afghanischen Kommunisten den sowjetischen Wohnungsbau einführten – noch bevor sie die sowjetischen Truppen willkommen hießen. Vier ihrer Kinder wohnen noch zu Hause, zwei sind verheiratet. Ein Schwiegersohn machte im Sommer in Bremen sein Arztexamen, nun ist er der Finanzier ihres Wahlkampfes.

Gulallai könnte gut auch noch einen dritten Fußball in ihrem Wahlkampfwappen brauchen. Denn sollte sie am Sonntag ins Parlament gewählt werden, wird sie dort nicht nur den Dschihadis – den Islamisten – und den diskreditierten Mudschaheddin begegnen. Sie würde dort auch einstigen Kommunisten über den Weg laufen, die die erste Wahl nach 33 Jahren nutzen, um aus ihrem langen Exil in Gefängnissen und dem Untergrund ans Licht der Öffentlichkeit zu treten.

Würde Gulallai auch gegen die Kommunisten gern ein Tor schießen? Sie überlegt kurz und erzählt dann von jenem Tag 1971, als sie von ihrer Arbeit aus der Schule kam. Die Wohnung war verwüstet, ihre Schwester verschwunden, verbrannte Bücher lagen überall herum. Ihre Schwester, die antikommunistische Schriften in ihrem Buchladen verkauft hatte, wurde ins Gefängnis geworfen. „Ich habe sie nie wiedergesehen“, sagt Gulallai.

Ein Hardliner jener Jahre war Schahnawas Tanai. Der General und Verteidigungsminister unter dem letzten kommunistischen Präsidenten Nadschibullah kandidiert für einen Parlamentssitz. „Er war verantwortlich dafür, dass tausende verschwunden sind – allein in Herat waren es 84.000 Menschen. Er gehört bestraft“, sagt sie.

Und was hält sie von Sourja Parlika, der früheren Vorsitzenden der kommunistischen Frauenorganisation, die ebenfalls kandidiert? Würde sie mit ihr gegen Dschihadis und Mudschaheddin Frauenpolitik machen? „Ja“, sagt Gulallai, „denn es geht um die Zukunft Afghanistans, um unsere Jugend. Darum, dass wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen.“

Nur einige Kilometer weiter macht jene Parlika Wahlkampf. Heute besucht sie den VIII. Bezirk, den mit 1,5 Millionen Wählerinnen und Wählern größten Wahlkreis des Landes. Auf die Frage, ob ihre Nationale Einheitspartei kommunistisch sei, antwortet sie prompt: „Keineswegs!“ Das sei eine marxistische Partei, eine demokratische. „Außerdem trete ich – so wie das Wahlgesetz es vorschreibt – als unabhängige Kandidatin an.“

Sourja – wie ihre Mitbewerberin Gulallai klein und energisch, aber etwa zehn Jahre älter – sieht heute keine Notwendigkeit mehr, ihre Vergangenheit oder die ihrer Partei zu verheimlichen. Die ging aus der berüchtigten Demokratischen Volkspartei von Babrak Karmal hervor, der 1979 die Sowjets ins Land geholt hatte. „Unser Krieg war das Resultat des Kalten Kriegs“, ist Sourja noch heute überzeugt. Schuld sei damals nicht die Breschnew-Doktrin gewesen, sondern die des US-Sicherheitsberaters Brzezinski, der Afghanistan zum Vietnam der Sowjetunion machen wollte.

Doch der Kalte Krieg ist auch für Sourja endgültig vorbei. Heute verteidigt sie die Anwesenheit der US-Truppen in Afghanistan. „Wenn die internationale Schutzmacht abzieht, fällt unser Land wieder in den Bürgerkrieg zurück“, ist sie überzeugt. Deshalb gehe es heute politisch darum, die Kriegsherren, die Taliban, die Dschihadis daran zu hindern, Afghanistan wieder ins Chaos und ins Mittelalter zurückzustoßen. Selbst die Frage nach Guantánamo und Gefangenenmisshandlungen auf der nahen US-Luftwaffenbasis Bagram lässt sie kalt: „Es ist schwierig, solche Dinge zu verhindern, wenn man eine Großmacht ist. Das Volk ist sich bewusst, dass die Truppen hier sind für seine Sicherheit.“

Für eine Politikerin ihres Formats führt Sourja einen bescheidenen Wahlkampf. Sie war mal Präsidentin des afghanischen Roten Halbmonds, und erst kürzlich wurde sie mit elf anderen Afghaninnen in die Liste der „Tausend Frauen für den Friedensnobelpreis“ aufgenommen. Sie durchlitt Gefängnis und Folter, während der Taliban-Zeit lehrte sie im Untergrund Kinder Lesen und Schreiben. Trotzdem tritt sie an diesem Nachmittag kurz vor der Wahl nur in zwei Schulen und in einer Werkstatt vor Näherinnen auf.

Während ihrer Rede, in der sie ihren Einsatz für Schulen, Arbeitsplätze und für die Bestrafung der Warlords verspricht, arbeiten einige der zwei Dutzend Frauen einfach weiter an ihren handbetriebenen Maschinen. Sie nähen die afghanische Fahne. An der Wand hängt ein weiteres Produkt: die sandfarbene Tarnuniform der internationalen Schutztruppe Isaf.

Sourja hat wie die meisten Kandidaten kein Geld für Großauftritte. Sie vertraut auf das Netzwerk aus früheren Parteigenossinnen, viele von ihnen Lehrerinnen. Auch alte Seilschaften helfen. Zu Sourjas Begleiterinnen gehört eine Frau, die durch ihr blondes Haar unter dem Kopftuch auffällt. Nasrin Katoni ist eine alte Freundin Sourjas, die heute in Ungarn lebt. Nun ist sie zurück, als EU-Wahlbeobachterin. Katoni legt ihre Aufgabe recht großzügig aus: Sie übersetzt für Sourja und findet auch nichts dabei, bei den Veranstaltungen vorn bei ihrer Freundin zu sitzen.

Auch Sabrina Saghebs Geschichte begann mit Folter und Flucht. Aber sie ging glücklich aus. Ihre Familie musste vor 24 Jahren in den Iran fliehen, nachdem ihrem Vater die Flucht aus dem Gefängnis gelungen war. Dort fiel Sabrina als talentierte Basketballerin auf und wurde gar iranische Nationalspielerin. Nun ist sie zurück. Sie ist Generalsekretärin der Afghanischen Basketball-Liga und gehört, noch keine 25 Jahre alt, dem Nationalen Olympischen Komitee an.

Sabrina ist die jüngste Kandidatin, und obwohl sie nicht einmal einen Wahlkampfstab hat, ist sie das Idol der städtischen Jugend. Um die Verbreitung ihrer Wahlwerbung muss sie sich keine Gedanken machen – die ist längst ein begehrtes Sammlerobjekt.

Doch die Geschichte lässt sich nicht so leicht verdrängen. Heute plant Sagheb einen Auftritt in Paghman, der Hochburg des Kandidaten Rasul Sajjaf, dem Inbegriff des Dschihadi-Mudschaheddin (siehe Spalte rechts). Anhänger Sabrinas hatten im Zentrum Paghmans ihr Bild neben eins von Sajjaf gehängt. Niemand hatte es heruntergerissen – ein Zeichen, dass sie einen Wahlkampfauftritt wagen könnte. Doch dann kommen gegen Mittag beunruhigende Anrufe: Ihr Wagen drohe auf dem Weg in eine Falle bewaffneter Sajjaf-Anhänger zu geraten. Sabrina beschließt, auf die Fahrt zu verzichten und stattdessen eine Schule zu besuchen. Eine andere Kandidatin in der östlichen Provinz Nuristan musste gestern für ihren Mut büßen: Bei einer Wahlkampfkundgebung wurde Haua Nuristani von Unbekannten an Kopf und Armen angeschossen. Insgesamt wurden bisher sechs Kandidaten getötet.

Während Sabrina im Hauptquartier telefoniert, verteilt ihr Vater auf der Straße kleine Sabrina-Kärtchen an Passanten, seltsam mechanisch und teilnahmslos. Er hat sich bis heute nicht von den Folgen der Folter erholt.