Deutschland braucht Antworten

Die Bundestagswahl lässt Fragen offen. Wir gehen sie an. Skizzen aus dem Deutschland nach der Wahl

Wehen in Templin, Heimat von Angela Merkel, die Flaggen auf halbmast? „Wüsste ich nicht“, sagt Frau Maschke aus dem Sekretariat des Bürgermeisteramtes. „Nein, tun sie nicht“ , entscheidet Bürgermeister Ulrich Schöneich. Er habe bereits vor der Wahl gesagt, Merkel werde in Templin nicht mehr Stimmen holen als die CDU bei früheren Wahlen. Und? „Ich habe Recht behalten.“ Ausschlaggebend sei gewesen, dass „Merkel Bush im Irakkrieg unterstützt hat“. In Templin gewann die SPD (35 %) vor der Linkspartei (29 %). Der Bürgermeister findet das nationale Ergebnis schön. „Endlich müssen die Großen miteinander reden.“ pu

Kann Jamaika Rettung bringen?

Ach, Jamaika! Verheißt ewigen Sonnenschein und blaues Meer, guten Rum und bestes Marihuana, es erscheint als Tableau purer Lebenslust, zu dem ein entspannter Bob Marley die Klampfe zupft. Mit der einfältigen Bemerkung „Ich bin ein alter Reggae-Fan“ tappte Claudia Roth denn auch prompt in die Falle. Fragen nach einer möglichen Beteiligung ihrer Partei an einer „Schwampel“ hätte die Grünen-Chefin jedenfalls kaum mit so nonchalanter Zweideutigkeit beantworten können. Dabei geht die Rede von Jamaika nicht auf einen konservativen Think Tank zurück, sondern wurde in den Neunzigerjahren erstmals von Andreas Braun ins Spiel gebracht, dem damaligen Chef der baden-württembergischen Grünen. In Bremen regte der liberale Fraktionschef Claus Jäger schon 1991 eine Verbindung von CDU, FDP und Grünen an – allerdings unter dem nicht marktfähigen Namen „Anti-SPD-Koalition“. Pläne für eine schwarze Ampel gab es zuletzt auf kommunaler Ebene, sie wurden 2001 in Frankfurt und 2004 in Dormagen ad acta gelegt. Allzu sehr sollte man sich von der Farbenpracht nicht blenden lassen: Geht’s nach den Farben in der Landesfahne, dann hätte das Bündnis aus SPD und Grünen nicht Rot-Grün heißen müssen, sondern Bangladesch-Koalition. ARNO FRANK

Kann man Grünen-Wählern die Schwampel mit CDU und FDP denn zumuten?

Daniel Cohn-Bendit, Chef der Grünen im EU-Parlament: „Es gibt eine Möglichkeit, die sofort greifen würde: Klaus Töpfer müsste Bundeskanzler werden und den Grünen garantieren, dass es wirklich zu einer ökologischen Wende kommt.

Und Merkel?

„Inhalte gehen vor Macht. Merkel müsste schon zu Töpfer mutieren.“

Hält Merkel überhaupt durch?

„Nee.“

Später bei Joschka Fischer nachgefragt.

Töpfer? „Ach der Dany, der hat den Vorteil, dass er einfach sagen kann, was er sich vorstellt.“ pu

Warum weint Norbert Leisegang?

Die Lider wollen einfach nicht blinzeln. Lassen die großen blauen Augen schimmern, während sie in den Vorraum des Willy-Brandt-Hauses starren. Norbert Leisegang steht unter einer Videowand, nippt an einem Glas Weißwein, fünf schnelle Schlucke, dann ist es leer. Ein bisschen sieht es so aus, als flösse der Wein direkt in seine Augen, die immer wässriger glänzen. „Sieht nach komplizierter Mathematik aus,“ sagt er dann einem Radiojournalisten ins Mikro, der ihn auf das Wahlergebnis anspricht. Leisegang hat seit einer Woche gearbeitet, nicht gewählt („aus Überzeugung, das war schon in der DDR so“), hat dennoch mit seiner Band Keimzeit dreimal auf SPD-Veranstaltungen Wahlkampfhilfe geleistet. Leisegangs große Augen blicken nicht traurig drein, sie spiegeln die Ratlosigkeit der SPD-Seele – eine Ratlosigkeit, die so viele der SPD-Mitglieder und Freunde durch den Wahlabend begleitet, die in den kommenden Wochen erst richtig spürbar werden wird, wenn die euphorische Hysterie von Sonntag gewichen ist. Die SPD ist nicht versenkt. Schröder noch da, er gibt ihr an diesem Abend jenes Selbstbewusstsein zurück, das er zuvor so strapaziert hat. „Das war fast ein Willy Brandt“, hört man die Partei auf den Tribünenplätzen während seiner Ansprache raunen, nicht ohne Stolz, aber was wird jetzt aus ihr, der Partei?

Nicht alle sind so teilnahmslos wie Leisegang – aber große schimmernde Augen haben sie alle, die No-name-Abgeordneten, die Bürohelfer, die prominenten SPD-Unterstützer. Irgendwo zwischen Staunen und Schadenfreude kommt die Wucht der eigentlichen Bedeutung des Wahlergebnisses zum Ausdruck: Das schwarz-gelbe bürgerliche Lager hat keine breite Mehrheit in der Gesellschaft. „Dafür hat es sich gelohnt zu kämpfen: kein Schwarz-Gelb“, sagt der Künstler Klaus Staeck, kurz nachdem Gerhard Schröder gegen 19 Uhr 30 seiner SPD, also sich, auf die Schultern klopft und das triumphale Jubelecho erntet. „Wir haben gegen eine geballte Medienmacht gekämpft, die Rot-Grün weghaben wolle,“ bekräftigt Staeck, „die taz war da übrigens nicht sehr viel besser.“

Eine gute Stunde später, als der Kanzler über Leinwand aus der Elefantenrunde in die Berliner Nacht schallt, spricht ein SPD-Mann in Anzug und Funktion vor dem Eingang mit seinem Handy. „Der Kanzler ist seltsam drauf, ja …, als ob er sich rächen wollte … ja, er rechnet ab.“ Viele in der SPD spüren Genugtuung, zeigen sie jedoch mit einem sorgenvollen Unterton. Sie hält sich, auch am Tag danach. „Diese Arroganz vor der Wahl, als wäre Schröder ein Putzlappen – es war mir eine Genugtuung, dass diese Selbstherrlichkeit seitens der CDU und Angela Merkel nicht belohnt wurde“, betont Maler Jörg Immendorff, der die Schröder-SPD ebenfalls im Wahlkampf unterstützt hat. Auch am Montag, während er in Berlin an seiner neuen Ausstellung arbeitet, will er nicht in die allgemeine Stillstands-Patt-Befindlichkeit einstimmen. „Rot-Grün-Gelb wäre vernünftig“, findet Immendorff, „große Koalition mit einer Merkel-CDU“ dagegen „rückwärts gewandt“. Dass es darauf hinauslaufen wird, auf unwägbaren Umwegen, macht nicht weniger ratlos. SUSANNE LANG

Wollte der Süden die Frau nicht haben?

„Merkel hat keinen vom Hocker gerissen“, sagt Georg M., Bauer aus Mittelfranken. Aber Stoiber? „Die ganze CDU/CSU hat doch gar nicht gewusst, wie sie es besser machen soll. Es war doch ein schlapper Wahlkampf.“ Testanrufe bei weiteren süddeutschen Bauern. Warum dieser Einbruch für die CDU/CSU in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen? Kirchhof wird genannt. Dies. Das. Keiner sagt, dass sein Problem die Frau war.

Was genau feiern die Linken?

Vorm Zelt auf dem Berliner Schlossplatz ist es kalt. Feuchter Bierduft schleicht herum. „Ihr wart es!“, ruft Gregor Gysi. Sie sitzen auf Tischen und Bänken, stehen im Wetter und jubeln, als wäre eben die Sonne aufgegangen. Sie haben mit ihren Stimmen für die Linkspartei wesentlich dafür gesorgt, dass es im Wahlergebnis keine Mehrheit gibt. Deutsche Parteien stehen jetzt da als das, was sie wirklich sind. Die SPD ist unsere böse Erinnerung an die letzten Jahre. Die CDU, das sind finstere Aussichten. Die FDP ist nichts als die Angst, von einer großen Koalition aus bösen Erinnerungen und finsteren Aussichten regiert zu werden. Die Grünen sind zu schwach. „Feiert noch schön!“, ruft Oskar Lafontaine. Sie feiern: Alles ist abgewählt! Journalisten hetzen herum. „Mach dir nicht so viele Sorgen“, sagt einer. Warum nicht? Der volle Schlossplatz ist die volle Leere. Menschen werden von Videoleinwänden umzingelt, auf denen Politiker sagen, was mit ihnen nicht zu machen sei. Wenn Westerwelle spricht, lacht keiner. Sie gönnen dem Mann den Sieg, weil er unbedeutend ist. Sie jubeln, als es scheint, als hätte die Sozialdemokratie mehr Überhangmandate als die Union. Sie sagen, Frau Merkel hätte die harte Niederlage nicht verdient. In der Leere lassen sich gut Gedanken machen, aber wer kann nirgendwo die Füße fixieren, um kraftvoll zu starten? In der Ferne schlägt die Rathausuhr. Menschen brechen auf, gehen. Einzig die Zeit sagt ihnen noch, woran sie sind. NADJA KLINGER

Was sagt Maren Kroymann? Kroymann, Schauspielerin, sagt erstens: „Die Bevölkerung hat Rot-Grün nicht das Misstrauen ausgesprochen.“ Zweitens: „Schwarz-Gelb hat keine Mehrheit gefunden – das ist eine klare Ansage für die Union.“ JAF

Was sagen die Fußballfans?

Um 18:04 Uhr erscheint auf den Videowänden der Duisburger MSV-Arena die Ankündigung, „Bild präsentiert die Wahlergebnisse“, woraufhin gepfiffen wird, als würden die eigenen Spieler aufs Übelste umgegrätscht. Die Betreiber der Anzeigetafel regieren, besinnen sich auf ihre Pflichten und zeigen das Eckenverhältnis. Aus der Ecke fällt ein Tor. Das zählt. Als um 18:12 dann doch die Prognose aufleuchtete: betretenes Schweigen, Gemurmel, und ein Aufschrei: „Hand“ – einem Spieler ist der Ball im Strafraum an den Körper gesprungen. Danach ist die Wahl vergessen. Spieler, Trainer und Funktionäre haben auch hinterher Wichtigeres zu besprechen: nämlich wie Rudi Völler den vakanten Trainerposten von Bayer Leverkusen besetzt.

DANIEL THEWELEIT

Was fängt die Homoszene mit dem Ergebnis an?

18 Uhr und eine halbe Minute – und im Sonntagsclub, Berlin, wird wie nach einer Bilanz erstaunlicher Vorgänge gelacht, bewertet – und geklatscht. Die Sozialdemokraten nicht so schlimm, aber die Union und ihre Merkel … „Jawoll“, das habe sie davon. Wovon? „Kirchhof“, sagen zwei Frauen, „Homoehe drei Männer“. Entsetzen, beinah Mitleid aber in diesem Auditorium, als Merkel erste Statements abgibt: „Boah, ey, die hat ja geheult.“ Momente von Mitleid und Mitgefühl mischen sich mit kurzen Sketchen an den Tischen, wer die Mundwinkel am tiefsten hängen lassen kann: Eine Lesbe aus Königswusterhausen gewinnt.

In diesem Bürgerrechtszentrum Homosexueller, im Ostteil der Stadt gelegen, wie auch sein Pendant im Westen, im Mann-o-Meter, wird das Desaster der Union zufrieden zur Kenntnis genommen. In Zahlen ist das ja auch leicht auszurechnen: Samt den Liberalen haben die Parteien, die sich programmatisch für gleiche Rechte homosexueller Männer und Frauen einsetzen, fast die Zweidrittelmehrheit. Kirchhofs Äußerung, er lehne die Homoehe als pervertierte Form des Artikel 6 Grundgesetz ab, die öffentlich nie dementiert wurden, hat der Partei geschadet. Glück verströmt auch ein Barbesucher des Bierhimmel in Kreuzberg, in der Stadt, der Klaus Wowereit vorstehe, habe „die fortschrittlichen Kräfte“ nichts verloren. Gewonnen hat auch der sozialdemokratische Johannes Kahrs aus Hamburg-Mitte, Sprecher seiner Partei im Bundestag für Homopolitik: Wenn auch mit Verlusten, schaffte er in diesem weitgehend proletarischen Gebiet der Hansestadt knapp 50 Prozent der Erststimmen. „Ich bin total glücklich.“ JAN FEDDERSEN

Wie ging die Wahl eigentlich aus?

Reto Glemser hatte einen Auftrag: Meide die Wahl. Geht das?

Es geht. Und zwar so: Bereiten Sie das Ereignis gebührend vor, indem Sie per Briefwahl abstimmen. Schließlich gilt es, potenzielle Störquellen der Gemütsruhe wie Wahllokale dringend zu vermeiden. Gegen 17 Uhr brechen Sie zu einem ausgedehnten Spaziergang auf und kehren gegen 18 Uhr in eine Sportkneipe ein. Die Chancen stehen gut, hier in geselliger Runde bis weit nach 19 Uhr von demoskopisch-politischen Orakelsprüchen verschont zu bleiben. Sie hören sich die Lebensbeichte eines Tischnachbarn an, freuen sich am eigenen Leben und telefonieren ab 21 Uhr mit Freunden, die sich schon seit Stunden vor dem Fernseher die Augen ruinieren. Stellen Sie klar, dass Sie nicht über die neuesten Hochrechnungen sprechen möchten. Das kann hart werden, und ich war mehr als einmal versucht, mich doch zu informieren. Bleiben Sie hart, gehen Sie gut gelaunt ins Bett und lachen am nächsten Morgen über Ihre Arbeitskollegen, die gestresster sind als Sie. Aber nicht wirklich klüger. RETO GLEMSER