Chodorkowski erneut vor Gericht

Heute beginnt in Moskau die Berufungsverhandlung gegen den Ex-Jukos-Chef. Der Kreml drückt aufs Tempo, weil der Häftling für die Duma kandidieren will

MOSKAU taz ■ Mit einer Woche Verzögerung beginnt heute vor dem Moskauer Stadtgericht die Berufungsverhandlung gegen den im Mai wegen Steuerhinterziehung und Betruges zu neun Jahren Lagerhaft verurteilten Öl-Milliardär Michail Chodorkowski und dessen Geschäftspartner Platon Lebedew. Zweimal musste die Verhandlung verschoben werden, da die Anwälte Genrich Padwa und Juri Schmid zum Prozessauftakt nicht erschienen waren. Aus dem mehrköpfigen Anwaltskonsortium sind sie die Einzigen, die mit der Verteidigung im Revisionsverfahren beauftragt wurden. Sollten sie erneut der Verhandlung fernbleiben, wird dem Beklagten ein Pflichtanwalt zur Seite gestellt.

Staatsanwalt Dmitri Schochin warf der Verteidigung am Montag vor, den Prozessbeginn zu verzögern. Zwar befindet sich Anwalt Padwa im Krankenhaus. Dennoch ist der Vorwurf nicht ganz gegenstandslos. Die Verteidigung spielt auf Zeit. Solange das Urteil durch die zweite Instanz nicht bestätigt ist, gilt der Beklagte als nicht rechtskräftig verurteilt und bleibt im Besitz der staatsbürgerlichen Rechte.

Die will der Kontrahent des Kremls nutzen, um bei Nachwahlen zur Duma am 4. Dezember zu kandidieren. Sollte Chodorkowski gewählt werden, genösse er Immunität. Die wäre nicht von langer Dauer, da die Duma mit einfacher Mehrheit die Immunität aufheben kann.

Die Wahl des Oligarchen unterstützt ein Komitee, dem heterogene politische Kräfte angehören. Dass der aufmüpfige Häftling keine Ruhe gibt, verunsichert die Kreml-Führung. Mehrfach hat der Oligarch in „Briefen aus dem Gefängnis“ dazu aufgerufen, ein breites Bündnis „aller patriotischen Kräfte“ von nicht orthodoxen Kommunisten bis zu sozial orientierten Liberalen dem Kreml als Gegenkraft entgegenzusetzen.

Auch deswegen drängt das Machtzentrum darauf, das Verfahren schnellstmöglich zu beenden. Dass das Stadtgericht vom Urteil der Erstinstanz abweichen könnte, glauben weder die Anwälte noch politische Beobachter. Dafür hält der Kreml die Justiz zu fest im Würgegriff. Sollte Chodorkowski erfolgreich kandidieren, wäre dies eine schallende Ohrfeige für die Kreml-Strategen.

Anfang der Woche teilten sechs Mitinsassen Chodorkowskis aus dem Gefängnis „Matrosenruhe“ mit, auch sie wollten kandidieren und sich dem Dienst an der Gemeinschaft widmen. Unter ihnen seien zwei mutmaßliche Räuber, zwei Betrüger, ein Kinderschänder und ein Vergewaltiger, sagte Gefängnisdirektor Wladimir Dawydenko der Iswestija. Hinter der Initiative der Knastbrüder vermuten Beobachter den Kreml. Die Kampagne würde sich nicht mehr auf den widerborstigen Märtyrer hinter Gittern konzentrieren, sondern ließe sich als ein Versuch der Unterwelt darstellen, nach der Macht im Land zu greifen, meinte die Moscow Times.

Bislang hat Chodorkowski gute Chancen. Im Moskauer Wahlbezirk 201 waren in einer Umfragen zufolge 28 Prozent der Wahlberechtigten bereit, für den Oligarchen zu stimmen. 25 Prozent hatten dem Vorgänger für ein Duma-Mandat gereicht.

Bereits in der frühen Anberaumung des Berufungstermins sehen die Anwälte einen Versuch, Chodorkowskis Duma-Kandidatur zu verhindern. Die Verteidigung war von einem Prozessbeginn Anfang 2006 ausgegangen. Ihr Antrag, das Revisionsverfahren zu verschieben, da die Gerichtsunterlagen fehlerhaft seien und die Zeit fehlte, zigtausend Seiten des Protokolls zu prüfen, wurde innerhalb von 24 Stunden abgewiesen.

Inzwischen ist Chodorkowski seinen Häschern dankbar. Er sei kuriert von der „Tyrannei des Besitzes“ und ein „verwandelter, normaler Mensch“, beschrieb er ironisch den Schritt zur Vita contemplativa. Jetzt, eingelocht und enteignet, sei er noch viel gefährlicher. KLAUS-HELGE DONATH