Im Clinch mit Costello

Lehrstück über die Liebe und das Alter: J. M. Coetzees neuer Roman „Zeitlupe“

von GERRIT BARTELS

Ein Drittel des Romans ist bereits um, da steht sie bei Paul Rayment in Melbourne vor der Tür, einfach so, aus heiterem Himmel, ungebeten: Elizabeth Costello, die ältliche australische Schriftstellerin, die wir aus J. M. Coetzees letztem Buch kennen, einer aufregend irritierenden und zwischen Erzählung und Essay changierenden „Lehrstück“- und Textsammlung namens „Elizabeth Costello“. Sie stellt sich Rayment vor, nimmt seine Hand in ihre, versichert sich, dass sie beide keine Gespenster sind, und rezitiert dann die Anfangssätze dieses neuen Coetzee-Romans: „Der Stoß erwischt ihn rechts, heftig und unerwartet und schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag, und schleudert ihn vom Fahrrad. (…)“.

Und auf einmal ist „Zeitlupe“, so heißt dieser Roman, nicht mehr nur die luzide und von Coetzee gewohnt präzise beschriebene Fallstudie eines Herren über 60, der bei einem Fahrradunfall ein Bein verliert und alles andere als souverän damit umzugehen in der Lage ist, (wer könnte das nicht verstehen?!) – von seiner Weigerung, sich eine Prothese anpassen zu lassen über seine Malaisen mit der Pflege bis zu einem seltsamen Anfall von Verliebtsein. Sondern ein weiteres frei flottierendes „Lehrstück“, diesmal nicht über „Das Problem des Bösen“ oder „Das Leben mit Tieren“, wie sie in „Elizabeth Costello“ vorgestellt wurden. Nein, „Zeitlupe“ versammelt Lehrstücke über die Liebe, das Alter und die Liebe im Alter, über die Spanne zwischen Schönheit und Scham und wie diese im Verlauf des Lebens größer wird, über das Fremdsein, und „Zeitlupe“ stellt Fragen, warum Eros durch die Betrachtung des Schönen geweckt wird oder ob der „Verkehr mit dem Schönen bessere Menschen aus uns macht oder wenn wir die Kranken, die Verstümmelten, die Abstoßenden umarmen“?

Hatte man sich vor dem Auftauchen von Costello schon ganz gemütlich eingerichtet in Coetzees Roman, war man vor Bewunderung einmal mehr ganz baff darüber, wie Coetzee in seine Figur hineinkroch, ohne übertriebene emotionale Anteilnahme zu erwecken, so wird man nun urplötzlich an einen anderen Ort, in ein anderes Buch versetzt. Ab hier kann „Zeitlupe“ nicht mehr mit dem Leben verwechselt werden, sind seine Protagonisten nicht mehr aus Fleisch und Blut; ab hier beginnt eine Art Romanspiel, inszeniert von einem Autor, der sich als großer Illusionist gibt, gleichzeitig aber seine Leser aller Illusionen zu berauben versucht.

Man fragt sich natürlich, ob Coetzee seinen Lesern nicht traut, dass er ihnen die Wirkweise seines Romans so plastisch vorführt; dass er auch Rayment immer wieder die Frage stellen lässt, wie „real“ Elizabeth Costello ist. Vielleicht aber traut er auch seiner Figur Paul Rayment nicht über den Weg, sodass er ihr als Regulativ und Erkenntnismedium die Costello an die Seite stellen muss. In seiner Kleinheit hält Rayment nämlich lange fest an der einseitigen Liebe zu seiner Pflegerin, zu der kroatischstämmigen Einwanderin Marijana Jokić. Diese Liebe ist nicht körperlich: Rayment hat Skrupel seiner Behinderung und seines Alters wegen, zudem ist Marijana verheiratet und hat drei Kinder. Seine Liebe erstreckt sich vor allem darin, dem Sohn ein Studium an einer Elite-Uni zu ermöglichen.

Costello dagegen bietet Rayment eine blinde Frau als Liebes- und Sexersatz an, was zu einer bizarren Vereinigung führt zwischen dem Lahmen und der Blinden, für Rayment aber keine Zukunftsoption darstellt. Und sie klärt ihn darüber auf, auf was für Abwegen er ist, wie sein Charakter beschaffen ist („Sie armer kalter Mann“ oder „Wir können nicht aus unserer Haut, Paul“) und lässt ihn ins Erzählen kommen und schließlich erkennen, dass man nicht von heute auf morgen von einem nicht unüberzeugten Einsiedler zu einem fürsorglichen Familienmenschen wird.

Das also funktioniert – Costellos und Rayments intellektuelles Dialog-Tennis gehört zu den Höhepunkten des Romans. Das funktioniert naturgemäß weniger im Hinblick auf den Fortgang der Geschichte. Die Verwicklungen Rayments mit den Jokić’ interessieren zunehmend weniger, und auch die Lebensprallheit der Figuren schlafft zusehends ab. Am Ende ist es gar Elizabeth Costello, Coetzees oberste Wortträgerin, die mehr und mehr Konturen bekommt: ihre Müdigkeit, ihre fehlende Spannkraft, ihr Schreibarbeitszwang (man fragt sich, wie sehr Coetzee sich hier selbst parodiert), ihre Gesichtszüge. Einmal stellt Rayment sich vor, wie er sie küsst, ihren Mund, „mit seinen trockenen, vielleicht sogar vertrockneten Lippen und dem Bartanflug drüber“.

Nach der Lektüre jedenfalls hat man demonstriert bekommen, was Costello im letzten Coetzee-Buch als Roman definiert hat: „Ein Versuch, das menschliche Schicksal an jeweils einem Fall zu verstehen, zu verstehen, wie es kommt, dass ein Mitmensch, der bei Punkt A gestartet ist und die Erfahrungen B und C und D gemacht hat, bei Punkt Z endet.“ Und trotzdem scheint Coetzee mit diesem durchsichtig-verzwackten Roman auch sagen zu wollen: „Wiegt euch nie in Sicherheit!“, nicht im Leben, nicht in der Literatur, nirgendwo.

J. M. Coetzee: „Zeitlupe“. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 301 Seiten, 18,90 Euro