Brutal wie Selby und Ellroy

USA, ganz unten: „Man braucht verdammt lang, um hinzukommen“ von Matthew McIntosh

Man braucht verdammt lang, um reinzukommen. Erst nach rund 60 Seiten fügen sich die zahlreichen kleinen und kleinsten Geschichten in Matthew McIntoshs Buch „Man braucht verdammt lang, um hinzukommen“ ein wenig zusammen – und aus den vielen bis dahin wahllos platzierten kantigen Stolpersteinen ergibt sich eine Art Trampelpfad. Erste Zusammenhänge erahnend atmet man auf, aber nur um gleich wieder zu verzweifeln. Denn der Pfad führt direkt in den Abgrund.

Dieser Abgrund nennt sich Federal Way, er ist ein Vorort von Seattle im Nordwesten der USA, und dort, zwischen Auspuffwerkstätten, Pornoläden und hässlichen Straßen wohnen McIntoshs Figuren. Sie heißen Charlie, Adda oder Bill und kämpfen mit ihrem „traurigen, beschissenen Leben“ bzw. ihrer „jämmerlichen, trübseligen Existenz“.

Ängstlich, depressiv, verletzt, verkrampft, krank, kaputt, zerrüttet, fertig, hässlich, deformiert, gebrochen, voller Schmerz und ohne Hoffnung meistern sie ihren Alltag nur mit Alkohol und Drogen. Oder sie meistern ihn nicht und bringen sich um. Irgendein Dan denkt sich: „Sterben war nichts weiter als der letzte Tritt in die Eier, den das Leben einem verpasste. Es war ihm scheißegal.“ Über irgendeine namenlose Mutter heißt es: „Das Band, das einen Menschen zusammenhält, zerriss einfach.“

Wer dennoch am Leben bleibt, hat keine Kraft mehr und raucht zu Hause Crack und säuft eimerweise Wodka, während „Wheel of Fortune“ oder „Jeopardy“ in der Glotze läuft. Und wer noch einen Rest an Energie aufbringt, geht ins „Trolley“, die Stammkneipe, um sich halbtot zu trinken. Dort arbeitet zum Beispiel Charlie, von dem es salopp heißt: „Er war jetzt fünfunddreißig und litt unter Schlaflosigkeit. Und er war fett.“ Außerdem ist er schwul, Alkoholiker, ohne Angehörige und Freunde, und der einzige Sinn seines Lebens besteht in seiner Arbeit am Tresen, die er aber wegen des Saufens bald verliert.

Jobs sind in Federal Way Mangelware. Man erfährt nicht, ob es am Arbeitsmarkt oder an den Figuren liegt. Vermutlich ist beides der Fall und eigentlich ist es auch egal. Denn auf drei Monate Hilfsarbeit folgen drei Monate im Knast, das ist so sicher wie der Wechsel von Ebbe und Flut oder von Vollsuff und Kater. Nichts kann das hier versammelte Personal erfreuen. Spaß und Liebe sind, wenn sie je da waren, längst abgestorben. Sex ist zwar nötig, aber widerlich, und selbst den Nackttänzerinnen im Bordell kann niemand mehr was abgewinnen, denn „die Musik, zu der sie tanzten, war so schlecht, dass man sich wie vergiftet fühlte“. Das Glück ist dort, wo Federal Way nicht ist.

McIntosh hat ein hübsch schonungsloses und brutales Buch vorgelegt, das die US-Tradition der realistisch-grausamen Prosa, wie wir sie von Hubert Selby, Cormac McCarthy oder James Ellroy kennen, fortschreibt. Am Ende bleibt nur die Frage offen, ob es sich um einen Roman, einen Storyband oder was auch immer handelt. Aber die Antwort ist so unwichtig wie ein Glas Wasser für die Trinker im „Trolley“. MAIK SÖHLER

Matthew McIntosh: „Man braucht verdammt lang, um hinzukommen“. Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 336 Seiten, 9,90 Euro