Geschichtsschreibung per Gerichtsbeschluss

Istanbuler Gericht untersagt eine wissenschaftliche Armenienkonferenz, bei der die offizielle Geschichtsversion des „nie geschehenen Völkermordes“ hinterfragt worden wäre. Organisatoren geben nicht auf und tagen an anderer Uni

ISTANBUL taz/dpa ■ Nach heftiger Kritik soll die am Donnerstagabend von einem Verwaltungsgericht in Istanbul untersagte Konferenz zum Vorwurf des Völkermords an den Armeniern im Ersten Weltkrieg jetzt doch noch stattfinden. Das Symposium werde an diesem Samstag und Sonntag von der Bilgi-Universität in Istanbul ausgerichtet, teilte deren Rektor Aydin Ugur gestern mit. Die vom Gericht erlassene einstweilige Anordnung richte sich allein gegen die bisher als Veranstalter aufgetretenen Universitäten. Es waren die drei renommiertesten Privatuniversitäten des Landes.

Nach dem Gerichtsbeschluss hatten die Veranstalter intensiv einen Weg gesucht, die Konferenz doch noch durchzuführen zu können. Sie ist nationalistischen Kreisen in der Türkei ein Dorn im Auge. Nachdem ein erster Anlauf im Mai noch an politischem Druck, unter anderem von Justizminister Cemal Cicek, gescheitert war, hatten die Nationalisten jetzt einen Richter gefunden, der bereit war, eine fundierte Kritik an der offiziellen türkischen Position – einen Genozid an den Armeniern habe es nie gegeben – zu verhindern.

Damit entwickelte sich ein als wissenschaftlicher Austausch geplantes Treffen von Historikern aus der Türkei, Europa und den USA zum Politikum ersten Ranges. Die offizielle Türkei, zu der in der armenischen Frage nicht nur Regierung, Opposition, Bürokratie und Militär zählen, sondern auch ein Großteil der Medien und fast alle Historiker, sieht sich inzwischen unter wachsendem Druck, die kategorische Verneinung eines Völkermordes in der Endphase des Osmanischen Reiches 1915–1917 wenigstens vorsichtig in Frage stellen zu lassen.

Tatsächlich wurden zuletzt auch in der Türkei immer mehr kritische Stimmen laut, die die massenhafte Ermordung und Vertreibung der Armenier nicht mehr nur als „bedauerliche, aber notwendige Folge“ des Ersten Weltkrieges sehen. Die Konferenz soll den vereinzelten Kritikern stärkeres Gewicht geben und dürfte die Risse in der offiziellen Abwehrfront vertiefen.

Die AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan war jetzt bereit, das Risiko einzugehen. Erdogan hatte im Vorfeld erklärt, auch wenn man anderer Ansicht sei, müsse in einer demokratischen Gesellschaft eine solche Konferenz möglich sein. Den Gerichtsbeschluss konnte er jedoch nicht verhindern. Erdogan kritisierte noch am Donnerstag die Intervention als unzulässigen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit der Hochschulen.

Als „Provokation“ verurteilte die EU-Kommission das Vorgehen des Gerichts. „Wir bedauern zutiefst diesen neuen Versuch, die türkische Gesellschaft an einer offenen Diskussion über ihre Vergangenheit zu hindern“, sagte eine Sprecherin in Brüssel. Direkte Auswirkungen auf den am 3. Oktober geplanten Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei werde der Vorfall nicht haben. Man habe registriert, dass Erdogan die Gerichtsentscheidung verurteilt habe. Der Fall illustriere die Schwierigkeiten der Türkei, Reformen „wirksam und einheitlich“ umzusetzen. JÜRGEN GOTTSCHLICH