Der Raum im Geist

Hier die Herren Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauß und ein sich objektiv gebendes Weltbild historischer und wissenschaftlicher Fakten, dort die subjektive Perspektive des Romanciers: Daniel Kehlmanns humorvoller, geistreicher und spannender neuer Roman „Die Vermessung der Welt“

Erst der Schriftsteller kann die Vereinigung der empirischenund der rationalen Vermessung der Welt leisten

von SEBASTIAN DOMSCH

In seinem hervorragenden neuen Roman „Die Vermessung der Welt“ erzählt Daniel Kehlmann von einem Treffen zwischen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß anlässlich des Deutschen Naturforscherkongresses in Berlin im Jahre 1828 und bettet darin eine Schilderung ihres Lebens und ihrer Arbeit ein. Humboldt und Gauß, das sind natürlich nicht nur die Namen zweier längst verstorbener Forscher aus Berlin respektive Göttingen, sondern globale Marken der Wissenschaftsgeschichte. Von der Gauß’schen Glockenkurve dürfte jeder Gymnasiast schon einmal gehört haben, weniger werden die Gaußklammer oder die Gauß’schen Zahlen kennen, aber manche sind vielleicht nach dem Abitur auf die Humboldt-Universität gegangen, wo sie etwas über den Humboldt-Strom oder das Humboldt-Gebirge gelernt haben. Wie alle Marken haben auch diese viel mit Image zu tun, verkörpern doch beide auf unterschiedliche Weise Dinge, auf die Deutschland, einmal ganz unschuldig, stolz sein darf.

Hier könnte also eine zweifache Erfolgsstory erzählt werden: vom Wunderkind, das zum größten Mathematiker seiner Zeit wird, und vom preußischen Adligen, der nicht nur wissenschaftliche Erfolge feiert, sondern dank seiner Reisebeschreibungen zu einem international gefeierten Star wird. Doch Daniel Kehlmann geht es natürlich nicht um reine Heldenverehrung, er gehört eher zu den sympathischen Kleinredern der deutschen Literatur. Das Erkennungsmerkmal dieser inoffiziellen Gruppe, zu der auch Hans-Ulrich Treichel zu zählen wäre, ist ihr ironisch-kritischer Blick auf das, was hierzulande gerne als Geistesgröße bezeichnet wird. Während es sich dabei in Treichels „Tristanakkord“ oder Kehlmanns „Ich und Kaminski“ noch um einen fiktiven Komponisten beziehungsweise Maler handelte, dessen Allzumenschliches dem Blick des Lesers offenbart wurde, hat sich Kehlmann diesmal zwei historische Glanzlichter des deutschen Geisteslebens vorgenommen.

Aus der Nähe betrachtet, sind sowohl sein Gauß als auch sein Humboldt eher unangenehme Typen. Gauß ist von geradezu überwältigender Arroganz gegen jeden, der weniger intelligent ist als er, und das ist eigentlich jeder, ein Stammgast im Bordell, im Alter zunehmend menschenscheu und übellaunig. Humboldt dagegen baut seine preußische Steifheit zum Schutzpanzer gegen jede soziale Bindung aus, seine Homosexualität unterdrückend modelliert er sich zur gefühllos, aber fehlerfrei arbeitenden Maschine nach dem Vorbild seiner Präzisionsmessgeräte, die er überallhin mit sich trägt.

Doch Kehlmanns Roman macht mehr, als lediglich seine beiden berühmten Protagonisten durch einen ungeschützt privaten Blick der Lächerlichkeit preiszugeben. Der ironische Götzensturz ist mehr ein Nebenprodukt eines größer angelegten Spiels mit dem Kontrast zwischen einem sich objektiv gebenden Weltbild historischer und wissenschaftlicher Fakten auf der einen Seite, und der subjektiven Perspektive des Romanciers auf der anderen. Kehlmann muss diesen beiden Forschern so nahe treten, um ihre wissenschaftlichen Leistungen in ein intellektuell-emotionales Verhältnis zueinander zu stellen und seinen eigenen Roman im Niemandsland zwischen Geschichte und Fiktion zu positionieren.

Das zeigt sich sehr schön an seiner Beschreibung der gescheiterten Besteigung des Chimborazo-Vulkans durch Humboldt und seinen Assistenten Bonpland im Jahr 1802, ein lange ungebrochener Rekord im Höhenbergsteigen. Kehlmann entwickelt daraus eine faszinierende Szene, in der zwei Männer, die noch nichts von der Höhenkrankheit wissen konnten, eine Reise in den Wahnsinn und wieder aus ihm hinaus unternehmen. Vor allem für den hyperkorrekten Humboldt ist das ein sehr merkwürdiges Erlebnis, für das es in seiner Erfahrungswelt keine Sprache gibt. Sein eigener Bericht des Abenteuers ist daher, wie Kehlmann in einem Essay schreibt, „verfasst im typischen Souveränitätston der Expeditionsbeschreibungen des achtzehnten Jahrhunderts“. Kehlmann setzt dagegen die eigene, frei erfundene Version, und beide, die von allem Unkontrollierbaren gereinigte und die romanhafte, können für sich einen ganz eigenen Wahrheitsgehalt beanspruchen.

Was die beiden Romanbiografien über das physische Zusammentreffen ihrer Subjekte hinaus schließlich auf überzeugende Weise zu einer Einheit macht, ist die Frage nach dem Verhältnis von Geist und Raum. Der Unterschied zwischen Gauß und Humboldt liegt nicht darin, dass sie verschiedene Räume vermessen, sondern dass sie dieses Verhältnis auf jeweils eigene Art definieren und leben.

Für Humboldt ist Raum etwas, das sich nur mittels der Bewegung des wahrnehmenden Geistes durch ihn hindurch wirklich ermessen lässt. Ein Fleck ist so lange auf der Landkarte weiß, bis ihn jemand durchquert hat und sagen kann: Ich war dort. Die Höhe eines Berges wird real, indem man auf ihn hinaufläuft. Humboldts Messmethoden mit Hilfe von Sextant, Quadrant, Teleskop, Längenuhr, Hygro- und Cyanometer setzen die körperliche Anwesenheit des Forschers am Messpunkt voraus. Die Genauigkeit, mit der Humboldt beim Messen vorgeht und die ihn dazu bringt, bereits in Spanien Karten zu korrigieren und zu verbessern, ist seine Art, Wertschätzung gegenüber dem Raum auszudrücken, dem der Geist zu größter Aufmerksamkeit verpflichtet ist.

Gauß ist das Gegenteil dazu, er verlässt einen Ort, an den er sich einmal gewöhnt hat, nur unter Strafandrohung, hat nicht das geringste Interesse, etwas von der Welt zu sehen. Doch in seinem Kopf wird der Raum, den er nie gesehen hat, berechenbar und auch vermessbar, wenn auch auf einer viel abstrakteren Ebene. Durch diese abstrakte Betrachtungsweise entdeckt Gauß, fünfzig Jahre vor Einstein, dass der Raum gekrümmt sein muss. Da das Universum jedoch so groß und die Krümmung so gering ist, wäre sie mit den Messmethoden Humboldts nie zu erschließen. Auch Gauß’ eigene Versuche während seiner Zeit als Hannoverscher Landvermesser scheitern. Selbst mit heutigen Messmethoden ist die mittlerweile allgemein akzeptierte Raumkrümmung noch nicht nachweisbar. Die Vereinigung der empirischen und der rationalen Vermessung der Welt kann erst der Schriftsteller leisten, indem er in seiner Einbildungskraft eine eigene, poetisch begründete Welt schafft, die die Erklärungsversuche anderer mit in sich einbezieht. Kehlmanns humorvoller und geistreicher, spannender wie lehrreicher Roman, der gewagt und spielerisch mit den historischen Fakten umgeht, ist daher die eigentliche Vermessung der Welt.

Daniel Kehlmann: „Die Vermessung der Welt“, Roman. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt 2005. 302 S., 19,90 Euro