Zeit zum Reifen

Ihre Wählerschaft würde es den Grünen erlauben, Konzepte für die postindustrielle Gesellschaft zu entwickeln und durchzusetzen. Sie muss ihre Chancen nur entdecken

Die Grünen besitzen einen weiten Rock, geschneidert aus einer universalistischen Moral

Auf die Frage „Und was machst du?“ gibt es – sofern man nichts zu sagen hat – eine kalauernde Antwort: „Einen guten Eindruck“. Daran mag sich erinnert fühlen, wer das Agieren des grünen Spitzenpersonals nach der verlorenen Wahl beobachtet. Nach außen wird Profil und Standfestigkeit gezeigt: Ohne langes Zögern wird die „Jamaika-Koalition“ abgesagt – voller Freude darauf, sie demnächst in den Ländern vollziehen zu können.

Ansonsten wird Seriosität und Offenheit nach allen Seiten gezeigt: Da wendet sich der Vorsitzende der Böll-Stiftung gegen den Anschein, man sei links, gibt der Linkspartei einen Korb, bevor diese überhaupt ein Anliegen geäußert hat, und verkündet behaglich, dass die grüne Partei über sozial fortschrittliche, wertkonservative und liberale Züge, kurz: über alles verfüge. Der Parteivorsitzende hingegen artikuliert Bonhomie und Ernsthaftigkeit, was er nicht nur durch feines schwarzes Tuch unterstreicht, sondern auch durch wohlwollende Äußerungen zur Kanzlerschaft der bis dato verketzerten Merkel. Die Presse goutiert es, obwohl nun gerade in dieser Frage die Meinung der kleinsten Oppositionspartei unerheblich ist. Ergänzend wird dem Publikum mitgeteilt, dass seit einer nicht näher datierten „politischen Erneuerung“ der Grünen „links“ – so der Vorsitzende – „nicht mehr die ausschlaggebende Kategorie für den Fortschritt“ sei.

Von der Systemopposition mit ihrem Umbauprogramm zur Opposition im System, an die Regierung und wieder hinaus: Die ehemalige Antiparteienpartei hat einen ganzen Zyklus politisch-parlamentarischen Lebens durchlaufen. Deshalb lässt der Drang zu regieren jetzt nach, und man kann sich Zeit lassen. Aber wozu? Müssen sich die Grünen neu erfinden? Kaum – wohl aber werden sie sich überhaupt erst mal finden müssen, wenn sie künftig mehr als nur eine programmatisch übertünchte Funktionspartei sein wollen.

Die bildungsbürgerliche Stammwählerschaft – zusammengesetzt aus der legendären Gattin des honorigen CDU-Politikers, aus dem einen oder anderen Photovoltaik-Unternehmer oder Biobauern, aus zehntausenden von beamteten Studienräten, fest angestellten Sozialarbeitern, der gar nicht so geringen Zahl jener, die in Kommune, Land und Bund unmittelbar davon leben, dass es grüne Abgeordnete gibt – sie alle haben der Partei noch einmal ein behagliches und respektables Plätzchen im Betrieb gesichert. Begleitet von wohlmeinenden Kommentaren mancher Sozialwissenschaftler, die nur bei den Grünen den gesellschaftstheoretisch erwünschten Mix von Verteilungs-, Teilhabe- und Generationengerechtigkeit verwirklicht sehen, scheint es jetzt an der Zeit, in der Opposition die wirklich zukunftsweisenden Konzepte zu entwickeln.

Der Soziologe Max Weber hat von den materiellen und ideellen Interessen geschrieben, die Menschen zum Handeln motivieren. Die ideellen Interessen der Grünen stehen in ihrem Parteiprogramm, von dem mittlerweile von Lafontaine bis Stoiber alle bekunden, dass sie es entweder genau gelesen haben oder mit ihm leben könnten; es ist daher – derzeit – nicht von Interesse: Von gesunden Hühnern über abgeschaltete AKW und Geschlechterdemokratie ist das ja alles bekannt. Aber worin bestehen die etwas enger gefassten, die materiellen Interessen, die die grüne Wählerschaft und die Parteimitglieder verbinden? Das scheint bei den anderen Parteien klar zu sein: Die Wähler der Linkspartei, überdurchschnittlich viele Arbeitslose, wollen Arbeitsplätze oder ein ausreichendes, nicht entwürdigendes Transfereinkommen, die Wähler der FDP, also der unternehmerische Mittelstand von Anwälten bis zu Malermeistern Steuersenkungen und Aufhebung des Kündigungsschutzes. SPD-Wähler wollen die Arbeitsplätze in den öffentlichen Verwaltungen und den niedergehenden Kernbereichen des Industriekapitalismus sichern, die CDU auch, nur weniger gewerkschaftlich und ein wenig unternehmerfreundlicher, die CSU will es weltanschaulich konservativer garniert. Aber die Grünen?

Dass sie einen weiten Rock, geschneidert aus postmateriellen Werten und einer universalistischen Moral und Weltoffenheit besitzen, wissen wir. Aber welches ist das Hemd, das auch ihnen näher steht als der weite Rock? Die Frage ist nicht so müßig, wie sie auf Anhieb klingt, aber auch keineswegs einfach zu beantworten. Vielleicht so: Wenn es wirklich so sein sollte, dass ein überwiegender Teil von Partei und Wählerschaft vom öffentlichen Dienst (bei Staat, Kirchen, Gewerkschaften, der eigenen Partei und sonstigen Verbänden) lebt, muss das politische Interesse vor allem einem reibungslosen Weiterfunktionieren dieser Form des Korporatismus gelten.

Daraus erklärt sich sowohl die – nach links blinkende – Feindschaft gegen den Neoliberalismus als auch die – nach rechts blinkende – Bereitschaft, zu einer so genannten nachhaltigen Finanzpolitik. Angeblich wird diese ja nur zugunsten der späteren Generationen betrieben, wobei gerne übersehen wird, dass ein überschuldeter Staat und ein an Mitgliedern und Steuern darbendes Verbändewesen zunächst die Existenz der eigenen Beschäftigten gefährden. Als weitere materielle Interessen können natürlich die Markt- und Steuervorteile von Umwelttechnik produzierenden Unternehmen und Biobauern gelten, sowie – hier verbinden sich Moral und Interesse – die Chancengleichheit von Frauen auf allen Ebenen des Arbeitsmarktes. Unter dem Strich wären die Grünen und ihre Wählerschaft damit die Partei des „Interesses des Staates“ (Claus Offe) und seiner Korporationen an sich selbst und damit fast zwingend auf jene allseitige Offenheit, jenen unspezifizierten Begriff von Fortschritt und jenes balancierende Usurpieren der besten Werte aller anderen Parteien angewiesen.

Müssen sich die Grünen neu erfinden? Kaum – wohl aber werden sie sich finden müssen

Daran ist nichts Verächtliches – solange man sich dieses Umstands bewusst ist und ihn reflexiv in die eigenen Politikentwürfe aufnimmt. Nur eine solche Partei des „allgemeinen Standes“ (so nannte Hegel die Beamtenschaft), deren Mitglieder nicht unmittelbar vom Arbeitsmarkt in Industrie, Landwirtschaft und privater Dienstleistung abhängig sind, wäre wohl auch in der Lage, jene bahnbrechende, kulturrevolutionäre Transformation vorzubereiten, die früher oder später unerlässlich ist. Soziologen wie Gorz und Beck haben es vor mehr als zwanzig Jahren analysiert, und auch die Grünen waren hier schon einmal weiter: Nur sie könnten – in Wiederaufnahme ihrer lange verstummten Debatten über das garantierte Mindesteinkommen – als Motor einer Einsicht wirken, die anzunehmen nicht aus bösem Willen, sondern aus existenzieller Not für die meisten Menschen nach wie vor nicht akzeptabel ist: dass sich die vor mehr als dreihundert Jahren entstandene Gesellschaftsformation, die um die „Arbeit“ als kulturellen Zentralwert entstanden ist, schon aufgelöst hat. Welche andere Partei als die Grünen wären in der Lage, dies dem Souverän mitzuteilen und – demnächst – auch politisch umzusetzen?

MICHA BRUMLIK