Paradoxer Rohrkrepierer

Schriften zu Zeitschriften: Die Sehnsucht nach unmittelbarer Wirklichkeit treibt den „Merkur“ um

VON JAN-HENDRIK WULF

Realitätssinn verkauft sich am besten als Kritik am vermeintlich Irrealen. Längst sind es nicht mehr bloß Spiegel-Leser, die sich gegenseitig die schaurig-schöne Geschichte von dem Land erzählen, das über seine Verhältnisse gelebt habe und jetzt wohl oder übel in der Realität ankommen müsse. In einer autoritären Realität aus bedrohlich abfallenden Kurven, die in erster Linie Anpassungsfähigkeit fordert und mit schmerzhaften Einschnitten für sich wirbt. Alles Dinge, die man als Linker eigentlich nie gewollt hat. Oder doch?

Mit links und rechts habe das alles ja gar nichts mehr zu tun, heißt es fast unisono im neuen Doppelheft der Zeitschrift Merkur. Im Editorial haben die beiden Herausgeber Karl-Heinz Bohrer und Kurt Scheel eine „neue Sehnsucht nach Wirklichkeit“ ausgerufen. Sie wollen das Bewusstsein schärfen „für die Realität, für die Phänomene als nicht hintergehbare Instanz, für eine Unmittelbarkeit, wie vermittelt auch immer“. Doch schon dieser paradoxe Rohrkrepierer verrät eigene Skepsis. Wo beginnt denn jene Realität, die einem nicht bloß eingeredet wird?

Dass die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit mit der Sehnsucht nach schmerzhaften Einschnitten einhergehen kann, hat etwa der Stanforder Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht beobachtet: „Im neuen Alltag der Vermittlungen sehnen wir uns nach Unmittelbarkeit, selbst wenn sie schmerzvoll wäre.“ Doch ist bei allem, was bis an die Schmerzgrenze hin libidinös besetzt ist, nicht Vorsicht geboten? In politischen Fragen sieht Gumbrecht jedenfalls kaum Chancen für eine unhintergehbare sinnliche Erfahrbarkeit: Ob es dort nun um Kriege gehe, „die unseren Alltag nicht tangieren“, um Viren oder Gene – „was immer für wirklich zu halten wir angewiesen werden“, ist eben doch „entweder zu mikroskopisch oder zu makroskopisch, um unmittelbar erfahrbar zu sein“.

Wurzel der Realitätssehnsucht ist für Gumbrecht die in der Aufklärung einsetzende „metaphysische Selbstreferenz des Menschseins“. Wo ein göttlicher Übervater schweigt, entzünde sich die Sehnsucht nach einer der „Rationalität und der Form der Gedanken entgegengestellten Intransparenz und Substantialität des Seins“ im menschlichen Staunen über sich selbst – notfalls sogar über die eigenen Körpersäfte. Schon Diderot habe 1769 seinen literarischen Helden, den Aufklärer D’Alembert, nach geglückter Masturbation in Gegenwart seiner Freundin ausrufen lassen: „Auf einem Planeten, wo sich die Menschen wie die Fische vermehrten, wo der Mann seinen Laich einfach auf den Laich der Frau drückte, da ginge es mir besser. Man soll nichts vergeuden. Wenn sich dies also, Mademoiselle, aufnehmen, in einem Fläschchen bewahren … ließe.“

Im Selbst- und Kunstgenuss, im Liebesrausch oder auch bei bösem Zahnweh mag Realität, aller Theorie zum Trotz, unmittelbar erscheinen; im Zwischenmenschlichen erscheint es ziviler, sie zur Verhandlungssache zu erklären. Daran ändert auch nichts, dass Zürcher Psychologe Wolfgang Marx seinen ödipalen Glauben an die Realität der eigenen unbefleckten Empfängnis ganz biologistisch dem alten „Echsenhirn, mit dem wir wie unsere ferneren und näheren tierischen Verwandten vor allem leben, um zu fressen und uns zu paaren“ zuschiebt. Das schöne neue Großhirn sei bloß „irgendwie darüber geschustert, wie das so die Art der Evolution ist“. Was der Verstand als unmittelbar real begreift, hat für Marx eine Zweckbindung ans Überleben, ist daher immer schon von Gefühlen gelenkt.

Kein Wunder also, dass der Zeit-Kulturkorrespondent Thomas E. Schmidt sich um die politische Sphäre Sorgen macht: „Das Kulturmilieu von links bis konservativ scheint geneigt zu sein, das Modernisierungsparadigma ganz preiszugeben.“ Denn die Suche nach dem politischen Schwung, sich im Sinne notwendiger Reformen „über die polyzentrische Selbstwahrnehmung der Gesamtgesellschaft hinwegzusetzen“, produziere oft genug nur autoritäre Entgleisungen nach dem Vorbild von Roman Herzogs Ruck-Rede. Solch ein „postdemokratischer Republikanismus“, der die Institutionen umgehen wolle und zur Rettung des Staatswesens direkt an die Tugend der einzelnen Bürger appelliere, erzeuge keine Unmittelbarkeit, nur neue Trugbilder: „Der normative Republikanismus, der bloße Appell an die Uneigennützigkeit, ist kein Weg, Zustimmung in kargen Zeiten zu erzeugen. Er dekonstruiert nicht den antimodernen Affekt, sondern überbietet ihn paternalistisch.“

Aus dieser Sicht scheint es erfreulich, dass Schröders Kanzlerdemokratie wie Merkels Durchregieren nun an der Realität gescheitert sind. Kann es daher nicht auch umgekehrt sein, dass gerade die Durchmedialisierung des Alltags die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit in Grenzen hält und damit Raum für Verhandlungen schafft?

Merkur 677/678 2005, 18 €