Tendenziös in vieler Hinsicht

Zwei Austellungen im Hamburger Bahnhof in Berlin: „Fast Nichts“ (F. C. Flick Collection) und der Preis der Nationalgalerie für Junge Kunst

Das Geld, das sich in der ersten Präsentation der Flick-Collection vor die Exponate schob, ist erneut spürbar

VON BRIGITTE WERNEBURG

Glück gehabt: Die Jury – Dan Cameron vom New Museum in New York, die Sammlerin Erika Hoffmann-Koenige und Angela Schneider, stellvertretende Direktorin der Nationalgalerie –sprachen den Preis der Nationalgalerie für Junge Kunst 2005 Monica Bonvicini zu. Auf ihren kettenrasselnden Lustschaukeln sorgen mutige Besucher für irritierend kinderleichtes Leben in der hehren Institution Museum. Sonst stimmten sie für Angela Bulloch und ihren elektronischen Zauberwald. Bulloch erhielt den Publikumspreis.

Glück gehabt. Denn nichts oder fast nichts lassen sie unversucht, sich gegenseitig zu beschädigen: die Staatlichen Museen zu Berlin auf der einen Seite und die F.C. Flick Sammlung auf der anderen. Doch das meint der Titel „Fast Nichts – Minimalistische Werke aus der Friedrich Christian Flick Collection“ nicht, unter dem die zweite große Sammlungspräsentation am Freitag in den Rieckhallen des Hamburger Bahnhofs eröffnete, inklusive dreier Arbeiten des aus Albanien stammenden Künstlers Anri Sala.

Kein glücklicher Zug, zieht er doch unwillkürlich zweite Gedanken nach sich. Anri Sala stellt nämlich eine weitere Videoarbeit im Hamburger Bahnhof aus. Mit John Bock, Monica Bonvicini und Angela Bulloch gehört er zu den Kandidaten für den am Dienstag vergebenen Preis. Sollte so womöglich Anri Sala für den Preis empfohlen werden? Oder wollte man nur noch schnell vom Umstand profitieren, einen preiswürdigen Künstler in der Sammlung zu haben? Auf Nachfrage heißt es, dass Sala schon vor der Nominierung auf der Künstlerliste stand. Seine Position entspreche dem Ausstellungskonzept. Schaut man sich das Konzept an, ist es freilich ein Leichtes zu argumentieren, die künstlerische Position von Monica Bonvicini oder Angela Bulloch entspreche ihm wenigstens so gut wie die von Sala, der von Flicks Stammgalerie Hauser & Wirth vertreten wird.

„Fast Nichts – Minimalistische Werke aus der Friedrich Christian Flick Collection“ durchzieht „kein kunsthistorischer roter Faden“, wie Eugen Blume auf der Pressekonferenz betonte. Weder gehe es um die klassische Minimal Art, noch um Kunstrichtungen, die sich in der Auseinandersetzung mit ihr entwickelt haben, also Land und Concept Art oder Post-Minimalismus. Es gehe vielmehr „um die Untersuchung von reduktionistischen Tendenzen“ in der modernen und zeitgenössischen Kunst.

Tendenzen sind eben etwas Schönes. Sie lassen sich überall entdecken, wo man sie entdecken will. Reduktion war denn auch gleich vor Ort zu beobachten: Provenienznachweise hält man nur bei zwei Arbeiten aus der Sammlung Marzona für nötig, sonst ist eben alles Flick – oder spielt hier die undurchsichtige Konstruktion der „Contemporary Art Limited“ in Guernsey eine Rolle? Anstelle des Kanzlers, der bei der Erstausstellung im September letzten Jahres die Eröffnungsrede hielt, war es nun Peter Klaus Schuster, Generaldirektor der Staatlichen Museen, der die Gäste begrüßte. Schröder sprach am Abend zuvor bei Jörg Immendorff. Hier, wo geklotzt und nicht gekleckert wurde, war es auch einfach, von Visionen zu sprechen.

Gekleckert wird nun in den Rieckhallen keineswegs. „Fast nichts“ hat Flick gewiss nicht in den Erwerb der frühen Arbeiten von Carl Andre, Dan Flavin, Sol Lewitt, Cy Twombly oder Blinky Palermo investiert. Auch jetzt ist das viele Geld spürbar, das schon in der Erstausstellung für mehr Aufsehen sorgte als viele Sammlungsstücke. „Fast nichts“ ist auch kein Begriff aus dem Zusammenhang der Minimal Art. Richard Serras Corner Props und die mächtige, in die Raumecken gerammte Stahlplatte „Strike“ (1970) sind ganz bewusst monumentale Kunst genau wie Sol LeWitts „Serial Project No. 1-Set C“ (1966/1985), eine weit ausladende Raster- und Kubusstruktur.

Nein, die Wendung „Fast nichts“ stammt aus dem Barock, wo sie eine unerklärliche Gewissheit, die fast nichts ausmacht, erklären musste: etwa die Sicherheit, einem großen Kunstwerk gegenüberzustehen. In dieser Tradition gibt sie allerdings für reduktionistische Tendenzen nichts her, und so entnimmt sie Eugen Blume einem Aufsatz des Philosophen Hannes Böhringer zu Gordon Matta Clark. Böhringer spricht sich hier zwar allgemein für eine Nivellierung der Unterschiede aus, zwischen Kunst und Alltag, Kunst und Politik und zwischen Kunst und Business. Doch wo bitte ist hier die Reduktion?

Die zweistellige Relation, wie sie das Bauhaus-Credo „form follows function“ nach Louis Sullivan ausdrückte? Den roten Faden der Philosophie sucht man in Blumes Ausstellungskonzept so vergeblich wie den der Kunstgeschichte. Es ist zwar hübsch, nach Serras Stahlgewittern und Thomas Ruffs metergroßen, nächtlichen Sternenhimmeln (1989) auf die kleinen Schwarzweißfotografien einiger, fälschlich unter Bauhaus gehandelter, Protagonisten der Neuen Sachlichkeit zu stoßen. Doch außer der Reduktion im Format ist hier keine Tendenz, nirgendwo. Das gilt auch für David Claerbouts vordergründig allzu passendes Schwarzweiß-Video „Shadow Piece“ (2005). In ihm versuchen digital in die Eingangssituation einer Architekturfotografie aus den 20er-Jahren projizierte Passanten ins Innere des neusachlichen Gebäudes zu treten.

Es spricht nicht gegen die Arbeit, dass Claerbout – ebenfalls von Hauser & Wirth vertreten – die Situation nicht in die Reduktion, sondern in die Narration treibt und auf der Tonspur Türen klappern, die sich im Bild nicht bewegen. Die Hängung besagt nur, dass fast nichts stimmt im Parcours der Rieckhallen, trotz vieler bemerkenswerter Arbeiten, etwa Bruce Naumans nächtliche Infrarotkamerabeobachtung „Mapping the Studio“ (2001). Ungeachtet all des fleißigen Sammelns von Sammlern fehlen den Staatlichen Museen die unabdingbaren Arbeiten, die es erlaubten, die minimalistischen Werke aus der Friedrich Christian Flick Collection in einem soliden, aus kunsthistorisch-kritischen Argumenten entwickelten Kontext zu zeigen.

Bis 23. April 2006, Katalog (DuMont Verlag) 38 €ĽAusstellung zum Preis der Nationalgalerie für Junge Kunst: bis 16. Oktober