Das neue Deutschland

VON NICK REIMER

Diesmal wird also in Potsdam gefeiert. Wieder wird es ein Feuerwerk geben, wie einst vor 15 Jahren. Wieder werden pflichtgemäß Lobeshymnen gesprochen. Und wahrscheinlich wird sich auch diesmal wieder keiner der Festredner trauen, uns endlich die notwendige Grabesrede zu halten: Die alte Bundesrepublik ist tot! Denn das zeigt sich im 15. Jahr der deutschen Einheit: Nicht die DDR ist am 3. Oktober 1990 der BRD beigetreten, sondern die alte Bundesrepublik dem neuen Deutschland.

Das ist tatsächlich die größte Sünde Helmut Kohls: Die alte Bundesrepublik glauben zu machen, Sieger der Geschichte zu sein. Und aus diesem Sieg neue Legitimationen zu generieren: blühende Landschaften in nur ganz kurzer Zeit. Denn was in der alten Bundesrepublik funktioniert hat, kann im Beitrittsgebiet doch nicht falsch sein.

Heute sind wir schlauer. Bei Mercedes-Benz genauso wie bei Eko-Stahl. Mit dem Unterschied, dass das, was Anfang der 90er-Jahre geballt und brachial über den Osten kam, sich im Westen langsam einschlich. Der administrativen Abwicklung des realsozialistischen Überstaates folgt der fein dosierte Abbau des westdeutschen Wohlfahrtsstaates. Die Folgen in Deutschland-West sind heute ganz ähnliche wie damals im Osten: Die alten Sicherheiten gehen dahin. Und Unsicherheit gebiert Larmoyanz. Das ist 15 Jahre später der gesamtdeutsche Nenner: Die Jammerossis sind jetzt überall.

Mit seiner Politik der „blühenden Landschaften“ erreichte Helmut Kohl zweierlei: Erstens suggerierte er, die Altbundesrepublik sei auf der Höhe der Zeit. Nicht nur, dass so die schwere Strukturkrise der Bundesrepublik Ende der 80er-Jahre einfach übertüncht wurde. Kohl legitimierte sich auch seinen Politikstil: Wer auf der Höhe der Zeit ist, muss schließlich keine Probleme angehen. Zweitens organisierte sich Kohl einen demütigen Osten.

Wer gerade den aufrechten Gang gelernt hat, dem fällt es schwer, sich neu zu ducken. Nichts anderes abverlangte aber Kohls Politik von den besiegten Siegern der Geschichte. Die Frauen wurden zu Heimchen degradiert, denen erst der Arbeitsplatz und dann das Recht am eigenen Bauch verloren ging. Vom profitablen Bischofferoder Kalischacht bis zu den abgezockten Fördergeldern der Vulkan-Werft – die Männer wurden marktbereinigt. Familien wurden ihrer Hütte unterm Arsch verlustig, weil ja „Rückgabe vor Entschädigung“ geht. Die Ostintelligenz wurde schwunghaft entsorgt, nicht einmal eine Stimme blieb den besiegten Siegern der Geschichte: Ihre Radio- und Fernsehsender wurden zerschlagen.

Die alte Bundesrepublik organisierte sich den Osten mit jener Selbstverständlichkeit, die Siegern nun einmal zusteht: Opfer bringen muss der Unterlegene. Gründe, die eigenen Mechanismen, eigene Werte oder Werkzeuge in Frage zu stellen, ergeben sich nicht. Abgesehen vom Grünen Pfeil und dem Solidaritätszuschlag macht die alte, osterweiterte Bundesrepublik genau so weiter wie zuvor. Und weil die Ostdeutschen alle brav neue Kühlschränke, Fernseher, Haartrockner, Schrankwände, Automobile kaufen, funktionierte das scheinbar auch. Innovationsdruck in einer sich globalisierenden Wirtschaftswelt? Nicht doch! Veränderungen in einer sich radikal verändernden Arbeitswelt? Bloß nicht! Zwänge, die eine stetig alternde Gesellschaft hervor ruft? Eines ist sicher: die Rente!

Szenen aus dem neuen Deutschland 2005: Nein, erklärt der Eisenacher Opelwerker, für die Einführung der Westlöhne habe seine Belegschaft gar nicht erst gerungen. Schließlich sei klar, dass die Westwerke demnächst den Osttarif einführen werden. Natürlich arbeite er gern fünf Stunden länger, erklärt der Bocholter Siemens-Werker. Ohne Lohnausgleich – versteht sich. Schließlich sei die Hauptsache, dass er seinen Job behält.

Sozial- und Wohlfahrtsstaat – der Konsens der alten Bundesrepublik ist stets ein sozialdemokratischer gewesen. Egal wer regierte, stets ging es um Balance zwischen Klassenausgleich und Zähmung des Kapitals – auch wenn die Konservativen das nicht sozialdemokratisch, sondern sozialmarktwirtschaftlich nennen. Der Staat befriedet den Markt, moderiert den Mehrwert, der wiederum als Gleitmittel des Wohlstandes die Demokratie befördert.

Was aber, wenn der Mehrwert derart schrumpft, dass seine Moderation nicht mehr der Rede wert ist? Es beleidige den Verstand, befand der ostdeutsche Intellektuelle Christoph Dieckmann, wie konsequent die SPD Ohnmacht, Staatspleite und Sozialabbau in euphemistisch beschrifteten Tüten verkauft hat: Reform, Innovation, Elite-Universität, Ich-AG. Ausgerechnet die Sozialdemokratie! Ist der bundesrepublikanische Konsens denn obdachlos geworden? Oder folgt das neue Deutschland nur einem anderen Konsens? Es ist ein Weilchen her, da schrieb der Publizist Klaus Harpprecht, der Osten sei geistiges Niemandsland. Harpprecht hat offenbar nicht studiert, mit welcher Marktmacht sich der Westen den Osten ebenbildlich machte.

Heuschrecken sind keine Erfindung von Franz Müntefering. Es gibt eine neue Form der Klassengesellschaft: hier die Flexiblen, Beweglichen – dort das freigesetzte Humankapital. Gedrückte Lohnnebenkosten sind eben nicht der wichtigste Standortfaktor. Globalisierung lässt sich nicht durch Marktprotektionismus verhindern.

Der Osten hat kapiert, dass Politik keine Weisungsbefugnis gegenüber der Wirtschaft besitzt. Dem Westen dämmert das erst. In den Audi-Werken Ingolstadt und Neckarsulm wird jetzt bei gleichem Lohn länger gearbeitet. Um den neuen Geländewagen „Marrakesch“ produzieren zu dürfen, verzichten die Volkswagenwerker auf 20 Prozent ihres Haustarifs. Was im Osten Schrumpfung heißt, ist in Deutschland-West der Karstadt-Effekt: Das Kaufhaus im Zentrum der Fußgängerzone als Symbol für die Rundumversorgung steckt in der Krise. Genauso wie der Staat, der die Rundumversorgung einfach nicht mehr zu garantieren vermag. Das Kaufhaus als vermittelnde Instanz zwischen der Welt der Verbrauchers und der des Konsums steht zur Disposition. Genauso wie die Möglichkeiten nationaler Politik, sich Kapital gefügig zu machen – und damit Arbeit zu generieren.

Flächentarif, Gewerkschaftsfürsorge, lineare Arbeitsbiografien oder Sesshaftigkeit – zunehmend gehen die Sicherheiten der alten Bundesrepublik verloren. Trauerarbeit ist gefragt. Nicht nur „Good by Lenin!“ oder „NVA“ sind garantierte Kassenschlager. „Das Wunder von Bern“ oder das von Lengede sind es auch. Und wenn das ZDF den größten Deutschen aller Zeiten sucht, dann ist das weder Goethe noch Einstein, sondern Adenauer.

„Ich komme aus dem Teil Deutschlands, der 1989 nicht zuletzt an seiner ökonomischen Unfähigkeit gescheitert ist“, schrieb einst Angela Merkel Helmut Schmidt. Nicht dass die Situation der DDR 1990 mit der des geeinten Deutschlands zu vergleichen wäre, „wir sollten aber wichtige Warnsignale nicht übersehen“. Merkel stellte ihre Einsichten zur Wahl: Gentechnik, Tarifflucht, leichtere Kündigungen, Studiengebühren.

Dass Merkel damit nicht durchgekommen ist, liegt ausgerechnet auch an Helmut Kohl. Denn obwohl ihr neoliberales Politikangebot tatsächlich ein Bruch mit dem bundesrepublikanischen Konsens gewesen wäre, berief sie Merkel auf die Tradition der Bonner Republik. Lange hatte sich die Wählermehrheit zu Reformen und Merkels neuen Konzept bekannt. In der Wahlkabine war dann aber doch das bundesrepublikanische Herz stärker.

Solange die Grabrede auf die alte BRD nicht gehalten ist, so lange muss der Aufbruch misslingen. Dass die linke Mehrheit in Deutschland nicht regieren kann, liegt an der Bonner Republik. Weil sich ein Teil auf deren Sozialromantik beruft, sind Antworten auf die Fragen der Berliner Republik unmöglich.

So wird die Republik vier weitere bundesrepublikanische Jahre unter Schwarz-Rot erleben. Denn in dieser Konstellation ist schwerlich zu erwarten, dass jemand endlich die dahin geschiedene alte Bundesrepublik auch faktisch ins Nirwana befördert.