Liebling der Muggel

Heute erscheint der neue „Harry Potter“-Band auf Deutsch. Ein Versuch, der Unwiderstehlichkeit des kleinen Zauberlehrlings auf die Schliche zu kommen

Die „Harry Potter“-Büchersind großartig altmodisch.Sie propagieren ganzungeniert Werte

von ROBERT MISIK

Weil die Welt schlecht ist, hat der Gute kein Recht, glücklich zu sein. Diesem alten literarischen Muster gehorchend, sitzt Harry Potter am Ende seines sechsten Schuljahres im Garten vor dem Zaubererinternat Hogwarts und zerreißt die gerade erst geknüpften Fäden frühen Teenagerglücks. Sie müssten sich trennen, sagt er Ginny Weasley, seiner ersten Jugendliebe. Sie können nicht zusammenbleiben. Er habe einen Kampf zu führen, und zwar allein. Macht gegen Macht. Der „Auserwählte“, der junge Held, gegen den „dunklen Lord“, Voldemort, den Herrn der Finsternis.

Damit endet der sechste Band der „Harry Potter“-Reihe, dessen deutsche Übersetzung heute erscheint. Gut gegen Böse sind in Stellung gebracht, zum großen Entscheidungskampf, und sogleich beginnt auch das Warten auf Band sieben. Bei all dem Rummel, den jede „Potter“-Veröffentlichung, ob im Original oder in deutscher Übersetzung, jedes Mal aufs Neue wieder auslöst, stellt sich nun die Frage: Was macht den Zaubererjungen mit den Nickelbrillen eigentlich so unwiderstehlich? Zunächst: Der Plot, die Figuren, die Welt, die in den Geschichten aufgespannt ist – nie sind sie eindimensional, immer sind sie gebrochen. Es gibt die äußere Welt, die Welt der normalen Menschen, der Muggel. Es gibt das verborgene Reich der Magier, die Zaubererwelt. Und die eigentlichen Zentralfiguren der Geschichte sind die, die an den Grenzen zwischen diesen Welten entlangstolpern. Harry, das Halbblut; seine beste Freundin, Hermine Granger, ein Menschenkind im Zaubererinternat. Aber auch durch die Zaubererwelt geht ein tiefer Graben. Hier die hochnäsigen, rassistischen Reinblütler – und ihnen gegenüber die, die das Anderssein akzeptieren; die schwarzen Magier, der „dunkle Lord“ Voldemort und seine Schergen, die Todesser – gegen diejenigen, die diese Untergrundkrieger für die Tyrannei besiegen wollen; und zwischen diesen beiden Antipoden torkelt das Zaubereiministerium, gewissermaßen die politische Führung der magischen Welt. Ihm stehen feige Bürokratennaturen vor, verschnarchte Erbsenzähler. Die Geschichte aller Tyrannei des 20. Jahrhunderts ist da die Blaupause. Aber es steht eben nicht schlicht Gut gegen Böse. Es gibt unter den Guten die Mutigen, aber auch die Feigen und die Eitlen, die sich auch schon mal vielleicht mit dem „dunklen Lord“ eingelassen haben, und unter den Bösen die, die dann doch ein Gewissen zeigen – wie etwa Potters fieser Mitschüler Draco Malvoy, der am Ende des neuen Bandes doch nicht zum Killer wird. Es gibt so ein ganzes Geflecht an Beziehungen, das buchstäblich ein politisches Kraftfeld aufspannt – hier die Zaubererbürokratie, da die Vorkämpfer gegen den Totalitarismus, dort das Zauberervolk, das sich lange Zeit gerne einlullen lässt von den falschen Versicherungen, die Lage sei im Griff.

Und die magische Welt ist nicht bloßes Beiwerk der Menschenwelt. Die magische Welt existiert in der Menschen-(= Muggel-)Welt, und die Muggel-Welt existiert in der Zaubererwelt. Da knirscht es bisweilen. Und wenn es zu sehr knirscht, dann hüpft der Zaubereiminister im Büro des Premierministers der Muggel aus einem Gemälde, zum Gipfeltreffen von weltlicher und magischer Macht.

Was aber Harry so zur Identifikationsfigur macht, ist die Tatsache, dass er eben kein großer Held ist, kein Odysseus, kein Herkules. Harry ist zwar irgendwie besonders, aber keine dieser üblichen Zentralfiguren aus dem Motivmuseum großer Internatsliteratur, um die sich Cliquen scharen. Ein brillanter Schüler ist er schon gar nicht. Äußerlich ist er einfach ein Normalo, der gepiesackt wird – und doch nichts weniger als gewöhnlich. Held und Antiheld zugleich. Unübersehbar ist Rowlings Botschaft: Man muss kein toller Hecht sein, um besonders zu sein. Kitschig? Na klar!

Knapp viertausend Seiten umfassen die sechs Bände, die bisher vorliegen, fast fünf Kilogramm wiegen sie, wenn meiner Badezimmerwaage zu trauen ist. Bei allem Abenteuer- und Fantasy-Gespinst sind die „Harry Potter“-Bücher jedoch viel realistischer als die meisten anderen Kinderbücher. Der kleine Zauberlehrling geht in eine Schule, in der nicht einfach gezaubert wird, sondern zaubern gelernt wird – nach strengen, aber meist vernünftigen Regeln, mit unsympathischen Typen und guten Freunden. Die Figuren sind echte Figuren, keine leeren Komparsen, die am laufenden Band lustige oder überraschende oder spannende Dinge erleben, wie sie in so vielen Kinderbüchern herumhampeln.

Sechs Bände hat sich Rowling Zeit gelassen, ihre Figuren zu platzieren. Erst wurde Harry in die Zaubererwelt eingeführt, dann wurde langsam deutlich, dass in dieser etwas nicht in Ordnung ist. Nach und nach wurde klar: Harry ist „der Auserwählte“, der die Zaubererwelt vom dunklen Lord befreien kann.

Lange konnte Harry seinerseits auf mächtige Beschützer zählen: auf seinen Paten Sirius Blake, auf Albus Dumbledore, den Internatsleiter. Er war ein Waise, aber nicht alleine auf der Welt. Blake starb in Band fünf. Jetzt gibt es wieder einen prominenten Todesfall, und dann sind die Fronten vollends begradigt. Frau Rowling hat ihre Figuren abschließend gruppiert. Das Ende ist kein Ende, sondern ein Anfang.

Das Buch ist – wie Harry selbst – erwachsener. In den Schulkorridoren wird geknutscht, über der Szenerie schwebt der schwüle Nebel erwachender Pubertierendenerotik. Schließlich sind Potter und Freunde jetzt schon sechzehn. In der äußeren Welt aber nistet sich Chaos ein. Auch Hogwarts ist jetzt kein sicherer Hafen mehr. Die Schlagzeilen des sonst so drögen „Tagespropheten“ werden beherrscht von immer neuen Todesfällen und täglich neuen Verschwundenen. Es wird düsterer.

In lange versunkenen bürgerlichen Epochen, als man noch auf Charakterformung und Entwicklungsromane setzte, galt als eine Aufgabe der Literatur: die Herzensbildung. Sie sollte Typen modellieren für eine gelingende Lebensführung. Die „Harry Potter“-Bücher sind so gesehen großartig altmodisch. Sie propagieren ganz ungeniert Werte. Hier nimmt der aufgeklärte, linksliberale Mainstream gewissermaßen seine endgültige, kanonische Form an. Er lautet: Ziehe eigene Urteilskraft dem Konformismus vor! Respektiere, was dir anders und fremd erscheint! Duck dich nicht weg, wenn Ungerechtigkeiten geschehen! Auch Muggel, sogar Mädchen können wilde Kerle sein! Große Überraschung: It’s entertainment, baby! Und, Kitsch hin oder her, es gilt auch: Eine Welt, in der 250 Millionen „Harry Potter“-Bücher verkauft werden, kann keine ganz schlechte sein. Auch wenn sie vorwiegend von Muggeln bewohnt wird.