Vorankommen ist alles

Der Bildungsroman als Spiel mit Theaterformen: Jarg Pataki inszeniert Goethes „Wilhelm Meister“ in Hannover

Die Begegnung von Jarg Pataki und Wilhelm Meister scheint einleuchtend: Ein Regisseur und Puppenspieler sucht sich einen Stoff, der den Beginn der Leidenschaft für das Theater und die Kunst mit einem Marionettenspiel erklärt. Deshalb schien es nur eine Frage der Zeit, bis Jarg Pataki, der gern nach Romanen und mit lebensgroßen Puppen als Begleiter der Schauspieler auf der Bühne arbeitet, einmal nach Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ greifen würde. Denn die Geschichte dieses Bildungsromans beginnt nicht nur mit der Erinnerung an ein Marionettentheater, sondern treibt ihren Helden anschließend durch historische Theaterformen, die seiner inneren Entwicklung Dynamik verleihen.

Der Roman liefert also die schönste Vorlage für ein Spiel, dass die Postmoderne erfunden zu haben glaubt, das Queren unterschiedlichster Formate der Unterhaltungskultur. Die Gaukler auf dem Marktplatz, das höfisch-allegorische Festspiel, mit dessen Ausrichtung sich der Autor am Hof von Weimar oft genug selbst plagen musste, und schließlich die Idee eines Schauspiels im Geiste Shakespeares – all das malt die Inszenierung von Pataki im Schauspiel Hannover mit Genuss aus. Die Puppen wachsen sich in dieser Evolution des Dramatischen von der Miniatur bis ins Format des gesellschaftlichen Panoramas aus. Die Zuschauer werden aus der Halle des Ballhofeins auf den von Fachwerkhäusern umstandenen Platz gebeten, zu Bärentanz und Clowns, Commedia-dell’-Arte-Masken mischen sich unter das Publikum mit dem schönen Satz „Sind wir nicht alle auf der Suche nach einem Engagement“, später sitzt man zu Tisch und erhält zur Suppe eine poppige Karikatur der Fürstenverherrlichung.

So weit, so gut, doch erschöpft sich darin der szenische Ehrgeiz. Für alles andere und das ist nicht wenig, ist der Vorleser zuständig. Es ist die großartige Stimme von Reiner Unglaub, einem blinden Schauspieler und bekannten Hörbuchsprecher, die allein den epischen Fluss in Gang hält: Nur von ihr erfahren wir, wie Wilhelm, der sein Kaufmannsleben verlassen hat für die Kunst, mit seinem Gewissen kämpft; wie sein Talent für erotische Eskapaden (sechs Affären) und etwas zu groß geschneiderte Selbstbilder ihn in Verwirrung stürzt; wie stürmisch er mit sich selbst redet, wenn er mal wieder glaubt, an einem Wendepunkt seines Lebens nun doch endlich sich selbst überwunden und die richtige Entscheidung getroffen zu haben. All das wird aus einem dicken Buch in Blindenschrift, das der Erzähler auf seinen Knien hält, vorgelesen und szenisch nur mit kleinen Miniaturen bebildert, wie bunter Flitter am Rand einer Buchseite.

Viel Zeit vergeht in den „Lehrjahren“, viel Zeit vergeht beim Lesen des Romans. Im Theater dagegen nicht, da wird die Zeit vertrieben während der dreieinhalb Stunden der Aufführungsdauer. Während beim Lesen das Schöne ist, dass man sich wie Wilhelm nach jeder neuen Erfahrung und Enttäuschung ein Stückchen gereifter im Umgang mit den eigenen Selbsttäuschungen glaubt, ist man im Theater einfach froh, vorangekommen zu sein.

Was bleibt zum Beispiel von Mignon, dem wilden und androgynen Kind, das fast alle Erziehungsmaßnahmen verweigert und sich nicht entwickeln will? Anne Müller darf sie spielen als kleiner, stets zusammengekrümmter Punk, der sich ab und zu in tobenden Anfällen auf die Erde wirft. Mehr ist dem Ensemble nicht eingefallen zu ihrer Figur, die doch eine der schönsten und geheimnisvollsten des Romans ist. Ihre Uneindeutigkeit in Geschlecht und Herkunft ließ immer wieder neue Generationen den Weg zu Goethe über Mignon finden. Wie grimmten schon die Dichter der Romantiker ihrem überlegenen Konkurrenten Goethe, weil er diese traurige Figur des ewigen Sehnens nur erfunden zu haben schien, um sie am Ende den Ideen von Fortschritt und Vernunft zu opfern. Nur eine tote Kindsbraut ist eine gute Kindsbraut. Die pompösen Riten zu ihrer Beerdigung bilden eines der abartigsten Kapitel des Romans und lehren, dem Autor und seinen Zielen so richtig zu misstrauen.

Solches Fremdeln gegenüber seinem Stoff oder gar eine kritische Haltung aber ist Pataki fremd. Lässt sich die Sache theatertechnisch bebildern, ist es gut, bewertet aber wird nichts. „Wilhelm Meister“ wird ihm vor allem zum Vehikel, durch das Spektakel zu führen. Und so wird die ganze Zeit von einer Bewegung und Leidenschaft erzählt, die einen selbst kaum berührt.

KATRIN BETTINA MÜLLER