Wir sind der Folk

Hey, diese Musik lebt weiter! Die Bands des New Weird America schreiben die Geschichte des amerikanischen Folk fort – auf ganz eigenen Wegen allerdings. Sänger wie Devendra Banhart, Sängerinnen wie Joanna Newsom oder Bands wie die Espers verbindet ein Interesse an Kollektivität und Improvisation, an Experiment und Abenteuer

VON GREGOR KESSLER

Vielleicht kann man sich den musikalischen Underground wie eine sehr große Badewanne voller Sprudelwasser vorstellen. Als winzige Luftbläschen kauern die Bands tief unten am Boden der Wanne. Manchmal trifft ein Bläschen auf ein anderes, verschmilzt zu einem etwas größeren. Und irgendwann, wenn sich genug kleine zu einer Blase zusammengefunden haben, die groß genug ist, dann beginnt sie langsam an die Oberfläche zu schlingern. Journalisten nennen solche Blasen Szenen, für andere ist es ein Hype.

Devendra Banhart nennt sie ein kleines Wunder: „Wenn ich als Achtjähriger alleine zu Hause war, und das war häufig, ging ich in das Zimmer meiner Mutter, schlüpfte in eines ihrer Kleider und griff mir einen Lockenstab, in den ich hineinsang, stundenlang. Es klang nicht sehr viel anders als heute.“ Nur dass heute an manchen Abenden ein paar tausend Leute zuhören.

Der 24-jährige Banhart ist der zurzeit prominenteste Vertreter einer Musikblase, die viele Namen hat. Mal heißt sie „Free Folk“, dann „Twisted Folk“. Schließlich taufte das britische Zentralorgan unerschrockenen Musizierens, die Zeitschrift Wire, sie „New Weird America“ – so wie der Popintellektuelle Greil Marcus das Folk-Revival der Sechziger um Bob Dylan „Old Weird America“ genannt hatte. Dieses „Neue seltsame Amerika“ wird von einem kleinen Heer von Bands mit komplizierten Namen wie Six Organs Of Admittance, Sunburned Hand Of The Man oder No-Neck Blues Band zusammengehalten, es wird bewohnt von Musikern wie Devendra Banhart oder Joanna Newsom. Vielleicht 40 oder 50 Bands und Solomusiker sind es derzeit, die unter diesen Namen zusammengefasst werden. Und sie sind so weit gestreut und doch so eng miteinander verwoben, dass Otto Schily sicher von einer Parallelgesellschaft sprechen würde.

Natürlich ist da – die verschiedenen Genrebezeichnungen lassen hier nichts zu deuteln – eine gemeinsame Liebe zur freien Interpretation des Folk. Aber da ist noch viel mehr. Ein Interesse an Kollektivität und Improvisation, am Experiment und Abenteuer. Aus den verschlungenen und noch immer sehr engen Zirkeln des New Weird America (NWA) dringt derzeit mehr aufregende Musik in die besser sortierten Plattenläden als aus all den gut budgetierten Post-Punk-Retortenlabors der Musikindustrie.

Was diese große musikalische Familie zusammenhält, ist nicht leicht zu sagen. New Weird America ist keine Bewegung, die sich leicht in eine Tradition stellen ließe. Sie definiert sich nicht wie Punk über Jugendlichkeit. Ben Chasney von Six Organs Of Admittance tritt regelmäßig mit dem über 60-jährigen Singer-Songwriter Garry Higgins auf, dessen legendäre Kiffer-Folkplatte „Red Hash“ gerade wieder veröffentlicht wurde, viele NWA-Musiker sind selbst Mitte 30. Sie ist auch nicht wie Grunge eine, die sich über einen bestimmten (Gitarren-)Sound definiert. Und sie ist auch nicht per se daran interessiert, mit Traditionen zu brechen.

Im Gegenteil: viele NWA-Musiker pflegen ein für ihr Alter verblüffend profundes Wissen über die Geschichte des Folk und Jazz, der Avantgarde und psychedelischen Musiken. Sunburned Hand of The Man lassen ihr jüngstes Plattencover von John Jagel gestalten, der früher für Jazzavantgardisten wie Coltrane und Ornette Cover designte. Noch durchs Telefon lässt sich das Leuchten in den Augen von Greg Woods, Kopf der pastoralen Folk-Prog-Band Espers, erahnen, wenn ihn seine Liebe zu italienischen Progressivobskuritäten davonträgt. Und wie aus einem aktiven Vulkan strömen die Namen vergessener Drogenfolk-, Bluegrass- oder Psychedelicplatten aus Devendra Banharts bartgerahmtem Mund, fragt man den 24-jährigen Hippiebarden nach seinem Hintergrund.

Das sind nicht die skurrilen Vorlieben musikalischer Elitisten und Distinktionsstrategen. Seit Ende der Neunziger erscheinen mehr, qualitativ bessere und leichter zugängliche Neuauflagen seltener Sixties- und Seventiesplatten als je zuvor. Doch der maßgeblichere Unterschied zu den Achtziger- und Neunzigerjahren: Sie werden nicht nur von den eingeschworenen und eng begrenzten Sammlerzirkeln gekauft, die gerade von ihrem ganz eigenen Methusalemkomplex eingeholt werden, sondern – zumindest in den USA – von jungen, neugierigen Musikhörern auf der Suche nach neuen Sounds. „Ich weiß nicht, wie es in Europa ist“, erzählt Weeks, „aber hier in Amerika sind eine ganze Reihe vormals sehr obskurer Sixties-Platten inzwischen zur gängigen Währung der jungen Hipsterhörer geworden. Die Leute hier sind inzwischen über den Punkt hinweg, etwas zu verabscheuen, nur weil ihre Eltern es damals auch gemocht haben könnten.“

Der 33-jährige Greg Weeks hatte damit auch früher kein Problem. „Ich hätte nie begonnen, akustische Musik zu spielen, wenn meine Eltern keine Leonhard-Cohen-Platten gehabt hätten“, erzählt er ohne Scham. Auch Ben Chasney, der Ende der Neunziger als Six Organs Of Admittance in einen nordkalifornischen Kaff eine schwerelos dahinfließende akustische Folk-LP voller beunruhigender elektronischer Ambient-Drones und meditativer Chants aufnahm, kam erst durch Vaterns Leo-Kottke-LP auf den Folkgeschmack.

Deshalb wehrt sich Greg Weeks, bei aller pflichtgemäßen Abscheu vor stilistischen Schubladen, nicht gegen die Bezeichnung New Weird America. „Für Dylan und die anderen Neo-Folkies der Sixties waren die alten traditionellen Folksongs der Boden, in dem sie wurzelten. Ohne die Folk-Blues-Stücke aus dem frühen 20. Jahrhundert hätte es diese Szene, die Greil Marcus das ‚Old Weird America‘ nennt, nicht gegeben. Aber sie interpretierten diese Musik auf ihre eigene Art. Meine Band, die Espers, und eine ganze Reihe der anderen Bands tun das genauso. Wir tragen diese alte Musik in einem frischen Kleid in die Neuzeit.“ Das spricht sich gerade erst herum. Als die Espers vergangenen Herbst gemeinsam mit der britischen Folk-Rock-Legende Incredible String Band durch die Vereinigten Staaten tourten, da realisierten die meisten der älteren Besucher zum ersten Mal: Hey, diese Musik lebt weiter.

Aber sie wird modifiziert. Etwa von Joanna Newsom, mit einem Vertrag beim respektablen Drag City Label eine der prominenten Vertreterinnen des Genres. Die elfenblasse, zurückhaltende Frau, die selbst einer Jeanslatzhose mit Herzapplikation eine gewisse Anmut verleihen kann, ist ausgebildete Harfenspielerin und studierte Komponistin. Live verschwindet sie nahezu hinter ihrem mannshohen Instrument. Jedenfalls bis sie zu singen beginnt. Dann schält ein unsichtbares Spotlight die zarte Frau aus jeder noch so dunklen Umgebung. Denn so eine Stimme hat man lange nicht gehört. Beim Hören ihrer LP glaubt man unwillkürlich, irrtümlich auf 45 Umdrehungen gestellt zu haben. Newsoms ungewöhnlich hellem Quäken, den vielen scharfen Spitzen ihres Gesangs haftet die erdig-kautzige Aura alter Bluegrass- und Folk-Blues-Fieldrecordings an, wie Folkways sie in den Zwanzigerjahren in den Appalachen aufnahm. Doch Newsom verschiebt die Rhythmen, baut kleine Aussetzer und unorthodoxe Akkordwechsel ein und macht sich so die Tradition zueigen. „This is an old song“, singt sie in „Sadie“, „these are old blues, and this is not my tune, but it’s mine to use.“

Schon wenn Banhart das Telefon abhebt, hört man, dass auch er keine Call-Center-Stimme hat. Da scheinen ein paar Stimmbänder verknotet, irgendetwas in seinem Hals ist falsch angeschlossen. Wenn er zu seinen Akustikminiaturen singt, dann ist da ein schräges Kratzen, ein koboldhaftes Falsett und helles Vibrieren. Zusammen klingt das so unerhört und larmoyanzlos emotional, dass dadurch etwas zum Schwingen gebracht wird. Etwas, von dem man nicht wusste, dass es schwingen kann. Vielleicht hätte der krummnasige Ukulelespieler Tiny Tim Ende der Sechziger so klingen können, wenn er nicht als Novelty-Barde vermarktet worden wäre.

Mit seiner zügellosen Lockenpracht und buntscheckigen Hippiegarderobe könnte Banhart jedem Haight-Ashbury-Bildband anno 1967 entsprungen sein. Auch seine Rhetorik verweigert sich nicht dem Klischee: „Es ist mehr als eine Szene“, sagt er über das New Weird America, „schon eher ein Familie. Wenn wir in der gleichen Stadt sind, essen wir oft zusammen. Wir praktizieren platonisches Kamasutra sowie Broga und Soga, brüderliches und schwesterliches Yoga.“

Das klingt patschulischwanger, doch tatsächlich erfährt nicht nur der Folk, sondern auch der kommunale Gedanke bei New Weird America ein Revival. Man teilt nicht nur den Tisch, sondern auch die Musiker. Fast jeder der Beteiligten spielt in mehr als einer Band, reihum wird fleißig gewechselt. Manche NWA-Bands – New Yorks Animal Collective – tragen das Kollektive schon im Namen, andere beziehen sich musikalisch darauf. Die ebenfalls aus New York stammende No-Neck Blues Band begreift sich personell und stilistisch als offenes Projekt. Ähnlich der legendären deutschen Free-For-All-Kommunenband Amon Düül. Da wird der Folk-Fokus schnell erweitert, um Einflüsse aus dem Free Jazz, der Avantgarde oder Elektronik.

Für Banhart besteht die Anziehungskraft der NWA-„Familie“ aus dieser bedingungslosen und offenen Liebe zur Musik. „In den Neunzigern hatte ich oft das Gefühl, dass die kommerzielle Verwertbarkeit von Musik fast die Musik selbst verdrängte. Es war für Bands weniger wichtig, welche Art von Musik sie spielten, als dass sie mit ihr einen Plattenvertrag bekamen und in die Presse kamen. Das ist hier nicht so. Wir schwärmen aus in die Weiten der Musik und bringen mit nach Hause, was uns gefällt. Ob das nun musique concrète ist, freier Jazz oder ein Vorkriegsgospel.“

Ein paar Platten: Devendra Banhart: „Cripple Crow“ (XL Recordings/Indigo), Espers: „Espers“ (City Slang/Rough Trade), Joanna Newsom: „The Milk-Eyed Mendor“, Gary Higgins: „Red Hash“ (beide Drag City/Domino), Animal Collective: „Feels“ (Fat Cat/ Rough Trade)