Abbau der Vorbehalte gegen Schwule

Ein Projekt des Lesben- und Schwulenverbandes klärt Eltern und Großeltern unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen über Homosexualität auf

VON FRIEDERIKE WYRWICH

Alina Daniel ist die Erste, die es wagt, Widerspruch zu erheben: „Natürlich kann man Schwule erkennen!“, ruft die 58-Jährige mit dem grauen Dutt in die Runde. „Schwule Männer sind besonders lieb zu Frauen!“ Die Frage, auf die sie sich bezieht, haben Renate Rampf und Bali Saygili vom Lesben- und Schwulenverband (LSVD) gestellt, die an diesem Nachmittag in der generationenübergreifenden Seniorengruppe des Polnischen Sozialrats die Aufklärungsveranstaltung „Bolek ist schwul – wissen wir eigentlich, was das heißt?“ organisieren.

Warum gerade in der polnischen Community Aufklärung in Sachen Homosexualität betrieben wird? „Wir gehen nicht nur dahin, wo die Not am größten ist“, erklärt Renate Rampf. Gemeinsam mit Bali Saygili leitet sie das LSVD-Projekt „Migrationsfamilien“. Es soll Instrumente entwickeln, mit denen neben polnischen katholischen, auch russisch-orthodoxe und türkische islamische heterosexuelle Eltern und Familienangehörige erreicht werden. „Für deutsche Familien gibt es so etwas längst“, sagt Rampf. „Aber im Migrationsbereich leisten wir Pionierarbeit.“

Zum Aufklärungsnachmittag sind zwölf Frauen und Männer zwischen 16 und 80 Jahren gekommen. Es zeigt sich vor allem, dass Vorurteile und Klischees über Homosexualität eher grenzüberschreitender denn kulturspezifischer Natur sind. „Ich dachte, dass so was nach einer Ehekrise oder enttäuschten Liebe passiert!“, erzählt eine Mittsechzigerin, als sie erfährt, dass sich die sexuelle Orientierung bereits vor der Pubertät festlegt.

Schwule lieben Berlin

Jurek Szczęsny findet trotzdem, dass die polnische Gesellschaft und auch die polnische Community in Berlin Aufklärung nötig haben. Der 26-jährige Promotionsstudent aus Warschau lebt seit dreieinhalb Jahren in Berlin. „Zuerst bin ich nur für drei Semester gekommen, um an der FU Jura zu studieren“, erzählt er. „Aber dann habe ich mich doch entschlossen zu bleiben. Und dass ich schwul bin, hat dabei eine große Rolle gespielt.“ Jurek Szczęsny, dessen Akademiker-Eltern sein Coming-out mehr oder weniger gut geschluckt haben, ist in Warschau schon zweimal überfallen worden, weil er schwul ist. Einmal kam er aus einem Schwulen-Club und stieg ins Taxi. Vier Männer versuchten ihn aus dem Auto zu zerren und traten ihm ins Gesicht.

Eine Ausnahme sei dieses Erlebnis nicht, glaubt Jurek Szczęsny. Er sei in Deutschland geblieben, weil er hier das Gefühl habe, als Schwuler freier leben zu können. Auf der Straße oder bei den Nachbarn müsse er nicht verheimlichen, wer er sei. „In Polen haben die Leute dermaßen Angst, dass es jemand auf der Arbeit erfahren könnte“, sagt Szczęsny, der halbtags als Jurist in einem Berliner Abfallwirtschaftsunternehmen arbeitet. „Hier kann ich einfach das Bild von meinem Freund auf den Schreibtisch stellen, da sagt keiner was.“

In Deutschland, findet Jurek Szczęsny, sei den Menschen das Thema Homosexualität durch Talkshows und den CSD einfach vertrauter, „auch wenn man ähnliche Schichten vergleicht“. In Polen seien es die Menschen wegen der Homogenität des Landes nicht gewohnt, mit Homosexualität oder Fremdem allgemein umzugehen. „Bei uns sind 90 Prozent der Leute katholisch“, sagt Szczęsny. „Außerdem gab es vor der Wende jahrzehntelang kaum ökonomische Unterschiede oder nationale Minderheiten.“ Da gelte Heterosexualität als selbstverständlich.

Es gibt 130.000 polnischsprachige Berliner, die mehrheitlich vor der Wende in die Stadt gekommen sind. Sie gelten als gut integriert. Dennoch glaubt Szczęsny, dass sie diese Intoleranz verinnerlicht haben: „Aber sie werden hier sehr schnell und sehr stark mit dem Thema Homosexualität konfrontiert – und müssen ihre Meinung ändern, wenn sie nicht in der Minderheit bleiben wollen.“ Bleibt die Frage, ob es nicht auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft noch viele Gruppen und Regionen gibt, deren Mitglieder von einer solchen Aufklärung profitieren könnten. Alina Daniel, die vor zehn Jahren nach Berlin kam, ist allerdings froh, dass es den Informationsnachmittag zunächst einmal auf Polnisch gab. Warum? „Na, endlich konnte ich den Betroffenen mal alle meine Fragen stellen!“, sagt sie energisch. „Wir wissen ja viel zu wenig darüber!“