Flucht vor dem Politikversagen

Die Migration aus Afrika nimmt zu. Globale Erklärungen dafür reichen nicht aus

BERLIN taz ■ Wer sein Leben riskiert, um tausende von Kilometern durch die Sahara-Wüste an Afrikas Nordküste zu gelangen, um in Richtung Europa aufzubrechen, muss dafür gute Gründe haben. Der allgemeine Verweis auf Armut und Krieg im Afrika südlich der Sahara ist zwar nicht falsch, aber er ist so pauschal, dass er weder das Verständnis individueller Migrationsgründe noch die Suche nach Lebensperspektiven erleichtert.

Migration, so betont ein gestern an UN-Generalsekretär Kofi Annan überreichter Expertenbericht, ist für arme Länder mit schnellem Bevölkerungswachstum ein unverzichtbares Instrument zur Kapitalakkumulation: Sie bringt dreimal so viel Geld in die ärmsten Länder der Welt wie die gesamte staatliche Entwicklungshilfe; daher sei ihre Unterdrückung „weder wünschenswert noch realistisch“.

Ein Beispiel: Niger – das ärmste der geläufigen Herkunfts- und Transitländer. Über Niger sowie Mali verlaufen die wichtigsten Transitrouten aus Westafrika durch die Wüste nach Südalgerien oder Libyen, die jedes Jahr zehntausende Schwarzafrikaner auf dem Weg nach Europa benutzen. Niger erlebte diesen Sommer die schwerste Hungerkatastrophe seit dreißig Jahren. In weiten Landesteilen verließen die Männer im arbeitsfähigen Alter ihre Dörfer auf der Suche nach Arbeit und ließen ihre Frauen und Kinder zum Teil ohne ausreichende Vorräte zurück. Vielleicht sind einige dieser Männer aus Niger in Richtung Europa aufgebrochen.

Wenn es frühzeitig wirtschaftliche Unterstützungsmaßnahmen von außen für die hungergefährdeten Regionen Nigers gegeben hätte, dann hätten manche Migranten zu Hause bleiben können. Und wenn im Sommer 2004 die Heuschreckenschwärme frühzeitig bekämpft worden wären, die große Teile des Weidelandes im Sahel vernichteten und damit erst Hirtenvölker in die Armutswanderung trieben, wäre es zu dieser Situation gar nicht erst gekommen.

Die gesamte Sahelzone hat ein chronisches Defizit an Lebensmitteln, und saisonal bedingte Migrationsbewegungen aufgrund saisonaler Lebensmittelknappheit gibt es schon immer. Diesen Bevölkerungen das Recht auf Freizügigkeit zu nehmen würde den Todesstoß für sie bedeuten. Aber genau in diese Richtung geht die internationale Politik: Weniger Möglichkeiten zur Auswanderung nach Norden, verstärkte Grenzkontrollen an den Flughäfen sowie in der Sahara-Wüste im Namen des „Krieges gegen den Terror“. Zugleich treiben weiterhin ruinöse EU-Agrarexporte westafrikanische Bauern in den Ruin, während die US-Regierung mit Milliardensubventionen für US-Baumwollproduzenten die westafrikanische Konkurrenz aus den Weltmärkten verdrängt.

Auch politische Fluchtursachen werden ungenügend bekämpft. Zu Beginn des Bürgerkrieges in der Elfenbeinküste 2002 wurden hunderttausende westafrikanische Migranten in ihre viel ärmeren Ursprungsländer vertrieben, wo sie zumeist kein Auskommen haben. Was ist aus ihnen allen geworden? Dieses Jahr kommen in Nordafrika immer mehr Migranten aus der Elfenbeinküste selbst an, wo der Friedensprozess fast vollständig zusammengebrochen ist. Aber es gibt keine europäische Friedensinitiative für das Land.

Ein spezieller Aspekt des Umgangs mit den Migranten an der EU-Südgrenze ist die Lage jener Afrikaner, die in Marokko gestrandet sind und zu tausenden in den dortigen Wäldern als rechtloses Freiwild hausen. Sie sind es, die jetzt jeden Tag über die Stacheldrahtzäune klettern. Für sie kommen Maßnahmen zur Verbesserung der Situation ihrer Herkunftsländer zu spät. Aber Marokkos Politik ihnen gegenüber besteht aus Massenverhaftungen und Massenabschiebungen in die Wüste an der algerischen Grenze. Es wäre ein Mindestmaß an Humanität, diesen Menschen ein Bleiberecht und Arbeitsmöglichkeiten zu gewähren. DOMINIC JOHNSON