Narren mit Knarren

In jeder Waffe lauert ein böser Eigenwille, der alle guten Absichten hintergeht: „Dear Wendy“ von Thomas Vinterberg (Regie) und Lars von Trier (Drehbuch) spielt mit dem Genre des Western

VON DIETMAR KAMMERER

Eine Gruppe von jugendlichen Außenseitern sieht einer desolaten Zukunft in einem verarmten Minenarbeiter-Städtchen im Südosten der USA entgegen. Unversehens entwickelt sie eine fatale Faszination für antike Handfeuerwaffen. Weil sie sich für „Pazifisten mit Pistolen“ halten, schwören sie, die Waffen nur für Schießübungen und niemals außerhalb ihres Terrains zu benutzen, eines zum Clubtreff umfunktionierten, stillgelegten Fabrikkellers, den sie ihren „Tempel“ nennen. Aufwändige Rituale und die Federhut-Kostümierung als „Dandies“ sollen eine Art Schutzwall gegen die Realität des Ortes bilden, in der Menschen durch Kugeln nicht mutiger, sondern umgebracht werden und in der die Bürger sich aus Furcht vor Bandenkriegen nicht mehr auf die Straßen trauen.

Dick (Jamie Bell), der Anführer der geheimen Gesellschaft, erklärt seinen Mitstreitern den Zweck der Übung so: „Betrachtet es als eine Art soziales Experiment. Es hilft euch, das zu werden, was ihr wirklich seid!“ Die Waffe seiner Wahl, von ihm liebevoll Wendy getauft, ist eine zierliche Damenpistole mit Perlmuttgriff, mit der Dick blind ins Schwarze trifft. Mit ihrer Hilfe entwickelt er zum ersten Mal so etwas wie Selbstachtung. Auch der verkrüppelte Huey (Chris Owen), der Schwächling Sebastian (Danso Gordon) und Susan, das Mauerblümchen (Allison Pill), entdecken mit den Fingern am Abzug, dass sie mehr wert sind, als sie sich zugetraut hätten. Alles scheint rosig zu laufen, bis die Wirklichkeit und eine schießwütige Polizeitruppe die Einzelgänger auf den staubigen Boden der Tatsachen zurückholen.

„Dear Wendy“ ist die erste Zusammenarbeit von Thomas Vinterberg und Lars von Trier seit den Zeiten von „Dogma“. Dieser hat das Drehbuch verfasst, jener Regie geführt. Kein Wunder, dass der Film sich streckenweise wie ein apokrypher Teil der Amerikatrilogie von Triers ausnimmt. Auch in „Dear Wendy“ herrscht Theateratmosphäre in betont künstlicher Kulissenlandschaft, wird der Zusammenhalt eines sozialen Kollektivs auf seine Dysfunktionalitäten und latent paranoiden Strukturen abgeklopft und zielstrebig die unvermeidliche Katastrophe angesteuert. Was bei von Trier, der das Skript zuerst für sich verfasst hatte, dann offensichtlich die Lust an der Verfilmung verlor, wahrscheinlich zu einer weiteren Versuchsanordnung mit kalt gezeichneten Spielfiguren im moralischen Dilemma geraten wäre, wird unter der Dramaturgie von Vinterberg zum psychologisierenden Drama um massiv verwirrte Adoleszenz und fehlgeleitete Grandezza.

Im Originaldrehbuch waren die „Dandies“ erwachsene Mittdreißiger, Vinterberg verjüngte die Figuren zu Heranwachsenden, um den Film, wie er erklärt, „auf Augenhöhe und durch die Augen junger Menschen“ emotional erlebbar zu machen. Vermutlich liegt es am Konflikt dieser beiden Perspektiven – von Triers mitleidloser Schachspielerblick von oben, Vinterbergs Einfühlungsversuche in die jugendliche Rebellion –, dass der Film lauter gute Karten besitzt, sich letzten Endes aber selbst dabei im Weg steht, wenn es darum geht, sie auszuspielen.

Trotz des in sämtlichen Interviews geäußerten Dementis des Regisseurs, er wolle keine simple politische Allegorie auf die USA abliefern, hält er lauter Stichworte für einen wohlfeilen Antiamerikanismus bereit: Waffenfetischismus, Rassismus, 11. September, Bushs „War on Terror“, Amok laufende College-Schüler. Aber soweit wie der Film gehen nicht einmal die Knarrenlobbyisten der NRA mit ihrem Mantra des „Nicht Waffen, sondern Menschen töten“. Trier und Vinterberg sprechen dem Subjekt die Fähigkeit zur Entscheidung ab. Bei ihnen heißt es unverblümt: In jeder Waffe lauert ein böser Eigenwille, der alle gute Absicht übersteigt. Auf die amerikanische Kulturgeschichte zwischen dem beschwingten Sixties-Sound von „Time of the Season“ und dem patriotischen „Glory, Glory, Hallelujah“, zu dessen Klängen die jugendlichen Misfits im Spaghetti-Western-Finale ihren letzten Auftritt haben, lässt der Film den Snobismus alteuropäischen Dandytums treffen, der für die Überzeugung steht, die richtige (Verweigerungs-) Haltung reiche aus, um Verhältnisse zu ändern, an denen man sowieso keinen Teil haben will.

Dieser bizarre Spagat zwischen „Bowling for Columbine“ und „Barry Lyndon“ (es gibt weitere Kubrick-Anspielungen, etwa das „Full Metal Jacket“-Plakat in der „Tempel“-Dekoration), gelingt durchaus in einigen Szenen. Vor allem in der ersten Hälfte, wenn das durchweg sehenswerte Darstellerensemble (allen voran Jamie Bell, der mittlerweile meilenweit entfernt von der Niedlichkeit eines „Billy Eliot“ einen manipulativen Verführer in Szene setzt, oder Bill Pullman als Kaugummi kauendem Vertreter von Recht, Ordnung und Hinterlist) in den engen Vorgaben der Filmkonstruktion eine anarchische Energie freisetzen darf, hofft man auf einen klischeefreien Ausgang. Der wird leider im Kugelhagel begraben.

„Dear Wendy“, Regie: Thomas Vinterberg. Mit Jamie Bell, Novella Nelson u. a., Dänemark/Deutschland/Großbritannien/Frankreich 2005, 101 Min.