Ich will nicht reden müssen

Nicht alles, was eine Debatte sein möchte, ist auch eine. Einem Strukturwandel der intellektuellen Öffentlichkeit, der die verallgemeinerte Beobachtung, das Halbwissen und die starke Meinung der Recherche vorzieht, sollte man sich entziehen. Eine Antwort auf das Gesprächsangebot von Ulf Poschardt

VON MARK TERKESSIDIS

Als letzte Woche Freitag die taz erschien, habe ich mit verschiedenen Leuten ganz kurz über einen Text mit dem Titel „Wir müssen reden“ gesprochen. Die Gespräche liefen ungefähr nach folgendem Schema ab: „Hast du heute den Text von Ulf Poschardt gelesen?“ – „Mmmh. Irre.“ – „Allerdings: irre.“ Das war’s. Im Grunde hätten diese Sondierungen nie stattgefunden, wäre besagter Text nicht in der taz erschienen. Dieser Tage erscheinen ja im deutschen Feuilleton große Mengen von Texten, die einen mit großer Geste dazu auffordern, über sie zu reden – eine Debatte zu führen –, und man tut’s nicht. Ist einfach zu langweilig. Zu doof. Aber wenn es auf den Kulturseiten der taz steht, reicht es immerhin zu einem „irre“.

Was so irre war? Vielleicht schicke ich mal voraus, dass ich auch in diesem Fall eigentlich gar keine Lust habe, darüber zu reden. Weil es langweilig und doof ist. Aber genau darüber wollte ich denn doch sprechen: dass mir ununterbrochen Debatten aufgedrängt werden, die ich überhaupt nicht führen will. Selbstverständlich habe ich nichts gegen Diskussionen. Aber mittlerweile wimmelt es nur so von Texten, die aus aufgesammeltem Halbwissen, Google-Recherchen, verallgemeinerten Beobachtungen aus der eigenen näheren Umgebung, Ressentiments und dem unbedingten Willen zur Meinung bestehen. Diese Texte funktionieren ebenso wie verschiedene Varianten von Popmusik, die versuchen, dem Hörer eine Stimmung aufzudrängen: Sie wollen den Leser zu einer Antwort zwingen – „wir müssen reden“. Freilich ist das Spektrum der Themen so eingeengt, die Wissensgrundlage so dürftig und die Argumente so abstrakt-provokant, dass eine rationale Diskussion überhaupt nicht möglich ist. Alle Reaktionen werden in eine „Debatte“ eingespeist, aber diese „Debatte“ läuft um ihrer selbst willen: Sie hat kein Außen, sie hat keine Folgen, sie löst keine Probleme.

Aber vorerst zurück zu der Frage, warum wir den Text von Ulf Poschardt irre fanden. Irre sind mehrere Behauptungen – ich greife mal vier davon heraus. 1. Ulf Poschardt ist ein ehemaliger Linker. 2. Es gibt eine linke Hegemonie in Deutschland, was sich in Diskurshoheit, Lehrplänen und mittlerweile auch in einer populistischen Partei äußert. 3. Das bürgerliche Establishment ist heute selbst die eigentlich revolutionäre Klasse, was erkennbar ist an Angela Merkels Reform der CDU sowie der jährlichen Präsentation des „New Establishment“ in der US-Zeitschrift Vanity Fair. 4. Die Linke ist in diesen Tagen: im schlimmsten Fall antisemitisch; im besten Fall minoritär, abseitig radikal, mystisch-esoterisch. Über diese Behauptungen müssen wir wohl reden.

Zunächst habe ich keine Ahnung, was Ulf Poschardt dazu treibt, zu denken, er sei mal ein Linker gewesen. Weder ein Job beim SZ-Magazin noch das Abfassen von Büchern über „DJ-Culture“, Mode oder Sportwagen machen einen zu einem Linken – sondern gewöhnlich eine politische Praxis, mindestens aber dezidierte Positionen. Sich selbst als Exlinken zu titulieren, sorgt freilich für eine großartige Sprechposition: So kann man einerseits den weiterhin virulenten Revanchismus bedienen. Andererseits kann man so tun, als habe man in seinem persönlichen Entwicklungsroman bestimmte Leute hinter sich gelassen. Das ist besonders schön, wenn es sich um Leute handelt, die über die gleichen Themen schreiben wie man selbst – so wird man Konkurrenten los.

Die Funktion der zweiten Behauptung hängt mit jener der ersten zusammen: Schon seit den Tagen der Phantomdebatte über „Political Correctness“ ist es für die Sprechposition von „Exlinken“ ganz wichtig, eine linke Hegemonie zu beschwören, die einem die eigene Inszenierung als Rebell erlaubt. Da fühlt man sich so mutig. Wenn man die Linken provoziert. Und dabei gnädig über die gut geölte neoliberale Propagandamaschine hinwegsieht, die jeden Tag zwischen Wirtschaftswoche, „Tagesthemen“ und Kanzleramt vor sich hin schnurrt. Und nur weil auch die SPD bereits so neoliberal ist, war es möglich, dass die „Linkspartei“ gegründet wurde – das ist kein Populismus, das ist schlicht die Wiederauferstehung der alten Sozialdemokratie auf Acht-Prozent-Niveau.

Ebenso abstrus wie die Behauptung von der linken Hegemonie ist jene von den revolutionären Eliten. Das mag auf die USA ja noch zutreffen, zumindest was die Bereitschaft angeht, Risiken einzugehen. Aber in Deutschland bestehen die Eliten aus einem neofeudalen Klüngel von Menschen, deren Eltern und Großeltern auch schon Elite waren und die hauptsächlich daran interessiert sind, die Eliteposition auch für ihre Kinder zu sichern. Diese Elite ist sozial ungefähr so durchlässig, wie die Berliner Mauer es war – Leistung zählt da gar nichts.

Und zuletzt dann die Schelte der real existierenden Linken: Es ist selbstverständlich immer leicht, auf das Gewimmel von Gruppen inklusive „Linkspartei“ zu blicken und zu sagen: Der Weltgeist hat euch verlassen. Aber es macht Leute mitnichten zu Antisemiten, wenn sie Einwände haben gegen: Kapitalismus, US-Politik, israelische Politik. Alles andere wäre schiere Denunziation. Allerdings wäre ich der Letzte, der viele der hiesigen linken Gruppen nicht kritisieren würde – wegen ihrer Fantasielosigkeit, ihres Allgemeinvertretungsanspruches, ihrer Egomanie, ihrer Mittelschichtsausrichtung oder ihrer mangelnden Fähigkeit, mit Kritik konstruktiv umzugehen. Aber dennoch halte ich es für absolut honorig, wenn man minoritär, abseitig oder radikal sein möchte, anstatt wie Poschardt Sätze zu schreiben wie: „Deutschland braucht Wachstum.“

Aber ich bin auch nicht Deutschland. Ich bin nicht 82 Millionen. Denn Linkssein bedeutet immer, dass man Spaltungen innerhalb der bestehenden Gesellschaftsform kritisiert – wenn es Deutschland besser geht, heißt das bekanntlich noch lange nicht, dass es auch Arbeitern und Angestellten gut geht. Der Nationalstaat ist nichts als ein politischer Rahmen, auf den man sich zwangsläufig beziehen muss. Denn ich bin fünf Milliarden. Oder ich bin nicht links.

Nachdem wir jetzt doch geredet haben, dürfte klar sein, wie solche Texte funktionieren. Man stellt eine Reihe von Behauptungen auf, die mit der Realität herzlich wenig zu tun haben, um sich davor in eine bestimmte Haltung werfen zu können – in die des zustimmenden Rebells. Wie aber argumentiert man mit Texten, die sich für richtig oder falsch von Behauptungen nicht mehr interessieren, die weniger auf Argumente als auf Positionierungen abzielen? Diese Textsorte hat zweifellos etwas zu tun mit der politischen Ökonomie des Journalismus. Durch Umstrukturierungen vor allem innerhalb der Presse im letzten Jahrzehnt – es gibt immer weniger feste Jobs, Korrespondentenstellen, Pauschalistenverträge – hat sich die Zahl der „Freien“ immer weiter erhöht. Die konkurrieren wiederum mit den Redakteuren, die von ihren Blättern zum Schreiben angehalten werden, damit die Kosten niedrig bleiben. Für Recherche bleibt da einfach keine Zeit mehr. Einen Text zu schreiben, der Halbwissen und krude Behauptungen verrührt, um eine Haltung zu erzielen und eine „Debatte“ auszulösen, ist weitaus weniger Aufwand. Zudem gewinnt man an Aufmerksamkeit. Die man durch Recherchen oder die Entwicklung aufwendiger Vorschläge zur Veränderung der Gesellschaft verliert – denn Recherchieren bedeutet auch, dass man für eine gewisse Periode abtaucht, um zu reisen, zu interviewen, zu lesen, zu sammeln etc.

Aber wie geht man nun mit dieser Lage um? Einerseits gibt es wohl keine Alternative zum Argumentieren in den Tagen der folgenlosen Debatte – da muss man sich Sisyphos einmal mehr als glücklichen Menschen vorstellen. Auf der anderen Seite beobachte ich an mir selbst eben den eingangs beschriebenen zunehmenden Unwillen, überhaupt noch an einer „Debatte“ teilzunehmen, in der durch die schiere Ausstellung von Haltungen alle möglichen Positionen durchgehechelt und alle Fluchtlinien verstopft werden, ohne dass auch nur die geringste Überschreitung möglich wäre. Daher lese ich viel weniger Zeitungen und Zeitschriften als früher. Ich interessiere mich viel weniger für Kultur. Ich halte mich raus und fern und habe auch zeitweise das grandiose Gefühl, in einer amorphen Stumpfheit aufzugehen.

Und tatsächlich glaube ich, dass ich mit solchen Taktiken absolut nicht allein bin. Es gibt immer mehr Leute, die längerfristig oder zeitweise abtauchen unter den „Debatten“, den kulturellen Angeboten, den Events, den penetranten Anrufungen und Aufforderungen. Das ist kein Problem des Überangebots. Man kann einfach den Sermon nicht mehr ertragen: Rüste dich mit Individualität aus, damit du im Wettbewerb bestehen kannst; arbeite mehr; mach mehr Sport; konsumiere mehr; bekomm mehr Kinder; sorge selbst für Krankheit und Alter vor. Du bist Deutschland. Und selbst für den Widerstand gibt es ein Skript: Die Macher der gerade zitierten Kampagne haben mir ja schon die alternative Position vorgeschrieben. Es war klar, dass jemand sagen würde: „Ich bin nicht Deutschland“, und ich hab’s auch gesagt. Die Kampagne kann als gelungen gelten – sie hat eine „Debatte“ angestoßen. Nein, wir müssen nicht reden.