Antike trifft Globalisierung

Vater Armenier, Mutter Griechin, jahrelang auch türkischer Staatsbürger und „Faust“-Übersetzer: Ein Spaziergang durch Athen mit dem griechischen Schriftsteller Petros Markaris, der es mit seinen Kostas-Charitos-Krimis geschafft hat, die griechische Tragödie in den Unterhaltungsroman zu integrieren

„Ich habe ein ironisches Verhältnis zu nationalen Gefühlen“

von ACHIM ENGELBERG

Petros Markaris ist preußisch pünktlich. Wir treffen uns an den alten Markthallen Athens, am Eingang des Fleischmarktes, wo Männer in blutbefleckten Weißkitteln halbe Lämmer, Schweine und Rinder zum Verkauf zerhacken. Hinter uns liegt eine duftende Straße mit Gewürzgeschäften, vor uns erstreckt sich der Obst- und Gemüsemarkt, neben dem Fleischmarkt liegt der für Fische. Hier trifft man Bettler und Manager, Athener und Touristen, Inder und Balkanflüchtlinge, hier sieht man konzentriert Glanz und Elend Athens.

Beim Spaziergang entlang der viel befahrenen Athinas, der Hauptschlagader der Stadt, zum bekannten Kreisverkehr des Omoniaplatzes, bekennt Markaris im Lärm des Verkehrs: „Ich bin ein Zentrumsmensch. Ich lebe immer zentral, ich liebe es. Diese Gegend hat etwas von ihrem ursprünglichen Charakter behalten. Hier, bei den Händlern und in den Tavernen, riecht es mehr nach Orient als nach Europa. Das finde ich spannend, und das liegt natürlich auch an meinen türkischen Jahren.“

Mit „Balkan Blues“ liegt jetzt auch auf Deutsch Markaris’ erster Band mit Athen-Erzählungen vor – ein Jahr nach dem Erscheinen in Griechenland und erweitert um ein Kindermärchen. Das erzählt eine anrührende Geschichte, die zur besten Literatur von Markaris gehört: Ein kleines schwarzes Mädchen wird jeden Morgen in den Park gebracht und dort von anderen Kindern ausgegrenzt – der Hautfarbe wegen und weil es kein Wort Griechisch kann. Ein einsamer alter Mann, der täglich auf einer Bank sitzt, beschimpft anfangs das schwarze Kind, bis beide zueinander finden. Das erste griechische Wort des Mädchens ist Opa. Die etwas kitschige Annäherung wird mit einem schockierenden Ende wuchtig kontrastiert.

Obwohl in allen neun Geschichten von „Balkan Blues“ eine Straftat geschieht, sind es nicht Kriminalgeschichten im engeren Sinn: Die psychologisch-gesellschaftliche Durchdringung steht im Vordergrund. Dafür nutzt Markaris viele Stile – von Short Stories, von konventionellen Kriminalgeschichten, des Nouveau Roman, von reinen Dialogstücken. Markaris, das beweist „Balkan Blues“, ist mehr als ein Krimiautor.

Freilich machten die Krimis aus dem griechischen Intellektuellen Petros Markaris einen populären Schriftsteller. Ob in „Hellas Chanel“, „Nachtfalter“ oder „Live!“ – in allen ermittelt mit dem knorrig-charismatischen Kostas Charitos einer der originellsten Kommissare der heutigen Krimiliteratur. Hinter legalen Geschäften entdeckt er illegale, überführt kühl kalkulierende Mafiosi und in heißer Leidenschaft Mordende.

Wenn er auf falschen Fährten ist, gerät er in Milieus jenseits der Akropolis, und Markaris weitet den Kriminalroman zu einem episch breiten Gesellschaftspanorama Athens: bunt und abgestuft, düster und heiter, mediterran leicht und mörderisch, traditionsversessen und hypermodern. Dann verengt sich der vielgestaltige Figurenkosmos dramatisch: Im Brennglas einer Familie eröffnet sich eine universelle Tragödie. Die Serie um Kostas Charitos ist der Einbruch der griechischen Tragödie in den Unterhaltungsroman.

„Das antike Theater lebt von Familientragödien“, sagt Petros Markaris, mittlerweile sind wir in seiner Stadtwohnung mit Panoramablick angelangt, „die ‚Atriden‘, die ‚Odyssee‘, ‚Ödipus‘ – all das sind Familientragödien. Ich habe das weitergeführt. Familientragödien spielen in der griechischen Gesellschaft, in der griechischen Tradition eine entscheidende Rolle – deshalb baue ich sie in die Romane und Geschichten immer ein.“

Markaris’ Erzählwerk ist eine schöne Mischung aus Populär- und Hochkultur. Der 68-Jährige schreibt für das Kunstkino von Theo Angelopoulos und er verfasste die erfolgreiche Fernsehserie „Anatomie eines Verbrechens“. Er übersetzte eine Vielzahl deutscher Dramatiker –von Brecht bis Wedekind. Zwischen seinen Athen-Geschichten übersetzte er beide Teile von Goethes „Faust“. Worin sieht er die Aktualität von Goethes „Faust“? „Ich sehe zum Beispiel im ersten und vierten Akt des zweiten Teiles viele aktuelle Themen – Geld, Krieg. Goethe hat den Mephistopheles immer das sagen lassen, was er selbst nicht sagen wollte. Mephistopheles sagt im fünften Akt eine große Wahrheit: ‚Krieg, Handel und Piraterie / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.‘ Ich glaube, dass ist das Aktuelle für diese Zeit, die wir erleben.“

Solche Wahrheiten findet man auch in „Balkan Blues“. In einem der alten Märkte – Obst und Gemüse – spielt „Im Vorbeigehen“. Ein Unternehmer weißt einen Griechen barsch zurück: „ ‚Weißt du, was Globalisierung heißt? Dass arme Schlucker aus allen verdammten Balkanländern zu mir kommen und für einen Bissen Brot für mich arbeiten. Und ich gebe die Arbeit demjenigen, der den kleinsten Bissen will. Das heißt Globalisierung, verstehste!?‘ – ‚Der ist keiner von uns.‘ – ‚Das geht mir am Arsch vorbei. He, Einauge, beweg dich!‘ “

Solche Passagen wirken aus dem Zusammenhang zitiert didaktischer als im Textkörper. Dort werden minutiös und Nouveau-Roman-artig die Arbeitsvorgänge beschrieben. Die distanzierte dichte Beschreibung der Vorgänge wird verbunden durch Dialogpassagen, die die Vorgänge drastisch gesellschaftskritisch beleuchten.

Am Ende wird derjenige, der seine Arbeitskraft am billigsten verkaufte, ermordet. „ ‚Der ersticht ihn, weil er für dich die Steigen geschleppt hat.‘ – ‚Dann finde ich eben einen anderen, der sie für noch weniger Geld schleppt. Und wenn sie den auch abschlachten, dann finde ich wieder einen, der es noch billiger macht. Niemand kann den Gesetzen der Wirtschaft entgehen.‘ “

„Balkan Blues“ ist ein Markaris-Lesebuch, es zeigt die Facetten seiner Erzählkunst, und wir erleben in vielen der Geschichten die traditionelle griechische Welt aus der Perspektive der Zugewanderten. Wie kommt es aber, dass ein populärer griechischer Autor seine Heimat aus dieser Sicht beschreibt? „Ich bin väterlicherseits Armenier“, sagt Markaris, „mütterlicherseits Grieche, war jahrelang türkischer Staatsbürger, habe Deutsch studiert und schreibe griechisch. Ich habe ein ironisches Verhältnis zu nationalen Gefühlen. Auch bin ich nicht in Athen geboren. Ich kann mir den Luxus leisten, die Stadt ohne Sentimentalitäten zu betrachten.“

Petros Markaris: „Balkan Blues“. Aus dem Neugriechischen übersetzt von Michaela Prinzinger. Diogenes Verlag, Zürich 2005, 219 Seiten, 19,90 €